Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
streichelte ihr übers Haar. »Ein Mer gehört niemandem, so wie wir niemandem gehören. Unser Volk, die Sommerleute, nennt die Mers ›die anderen Kinder der Göttin‹. Wir glauben daran, daß die See die Mutter beider Völker ist. Aber der Name
Silky
gefällt mir. Früher einmal hatte ich einen Freund, einen Außenweltler, der genauso hieß. Er glich den Merlingen mehr als jedes andere Geschöpf, das ich kenne, und er wäre sicher froh, wenn man sich auf diese Weise seiner erinnerte. Wenn Silky größer wird, hilft sie uns vielleicht, die Mers besser zu verstehen.« Sie küßte ihre Tochter auf die Stirn. »Und jetzt leg dich hin und schlaf.«
Aber es ist noch so früh!«
»Du bist sehr müde.«
»Ich möchte mehr über die Mers erfahren.«
»Ich weiß. Shh.« Sie drehte sich um und ging zu Tammis' Bett, das an der anderen Seite des abgedunkelten Zimmers stand. Im Palast gab es Platz genug, so daß jedes Kind sein eigenes Zimmer haben konnte. Doch die Räume waren riesig und ungemütlich, und ihr kamen sie immer so kalt vor, daß sie es vorzog, die Zwillinge zusammenzulassen und in ihrer Nähe zu behalten, bis sie sich von selbst beschwerten oder alt genug waren, um nicht mehr nach Alpträumen aufzuwachen und sich zu fürchten.
Aber vielleicht hörten Alpträume mit zunehmendem Alter gar nicht auf. Sie schreckte ja selbst des Nachts hoch, hatte Angst und kam sich verlassen vor, obwohl sie neben einem Mann schlief, der sie liebte, und den sie ihr Leben lang gekannt hatte.
»Ich will auch mithelfen!« sagte Tammis, der sich auf einen Ellbogen stützte und gelauscht hatte.
»Natürlich.« Sie umarmte ihn, küßte seine Stirn und roch den Duft von Meer und Wind in seinem Haar. »Das wollen wir alle.«
»Wann können wir das Merbaby wiedersehen? Morgen?«
»Silky!« flüsterte Ariele laut. »Ich nenne es Silky.«
»Wir sind doch gerade erst heimgekommen.« Mond lächelte. »Und bald fahren wir wieder hin, aber nicht schon morgen. Ihr habt doch Unterricht.«
Tammis verzog das Gesicht. »Wo bleibt Da? Wollte er uns nicht noch auf der Flöte vorspielen?«
Mond blickte zur Tür und spürte, wie sich ihre Gesichtszüge spannten. »Heute abend nicht mehr, er ist sehr müde.« Während der langen, beschwerlichen Rückreise mit dem Boot war er in gereizter, finsterer Stimmung gewesen. Die einzigen Worte, die er sprach, waren Sticheleien. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich und die Kinder von ihm fernzuhalten. Den Grund für seinen schwelenden Groll hatte er ihr nicht genannt, aber sie wußte ganz genau, was ihn wurmte. Der Merling.
»Ich singe euch ein Lied vor.« Sie schloß die Augen und versuchte, nicht mehr an ihre Enttäuschung zu denken. In ihrer Phantasie versetzte sie sich in die Zeit zurück, als sie noch ein Kind war und bei den Sommerleuten lebte. Wenn ihre starke, blonde Mutter mit der Fischereiflotte heimkam, nahm sie sie in die Arme und wiegte sie. Sie sang Lieder von den Mers, wie das, das sie nun ihren Kindern vorsang. Mond stellte sich vor, sie alle säßen vor dem Feuer in einer winzigen Steinkate – auf einer winzigen, sturmumtosten Insel. Die schlichten Wohnstuben der Fischer waren anheimelnder, tröstlicher und realer gewesen als sämtliche Zimmer, die sie seither gesehen hatte. Plötzlich sehnte sie sich danach, mit ihrer Familie auf eine der verträumten Inseln zurückkehren zu können, möglichst weit weg von dieser verfluchten Stadt.
Aber die Vergangenheit, von der sie sang, existierte nur noch in ihrer Erinnerung. Ihre Mutter, die immer nach Meer und Wind geduftet hatte, war tot und sie selbst gehörte hierher, ob es ihr paßte oder nicht, andernfalls würde sich ihr aller Schicksal nicht erfüllen.
An diesem Abend wog die Last, die ihr das Sibyllen-netz aufgebürdet hatte, besonders schwer, denn sie wußte genau, daß ihr Leben nicht ausreichte, um das Angestrebte zu verwirklichen, und daß sie nie wieder Frieden finden würde. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie mußte sich zusammennehmen, damit ihre Stimme nicht versagte. Bestürzt blickte Tammis sie an. Sie lächelte, schluckte ihren Kummer hinunter und streichelte sein Haar.
»Schnitzt Da mir heute abend noch meine Flöte?« fragte er, als sie von seinem Bett aufstand.
»Ich weiß es nicht, mein Schatz.« Zu Monds Verdruß ließ Funke Ariele bereits auf seiner eigenen Flöte üben. »Aber ich werde ihn daran erinnern. Träumt was Schönes«, sagte sie zu beiden Kindern, ehe sie das abgedunkelte Zimmer verließ
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