Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
– »...
als alle Winter- und alle Sommerleute ihre Masken abnahmen und sich dadurch ihrer Sünden und Sorgen entledigten? Wir hatten geschworen, ein neues Leben zu beginnen, und wir erneuerten unser Versprechen, einander zu gehören, weil alles anders geworden war.«
»Die radikale Veränderung ist ja das Problem ...« Er blickte zum Fenster hinaus, dann riß er sie jählings an seine Brust und küßte sie mit verzweifelter Zärtlichkeit. »Mond ... laß uns ins Bett gehen. Ich habe dich schon lange nicht mehr bei Tageslicht geliebt ... Wir haben uns überhaupt schon lange nicht mehr geliebt.«
Unter dem Druck seiner Lippen und seines Körpers erwachte ihr Verlangen; trotzdem schob sie ihn von sich weg und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht; ich habe noch so viel zu tun, bevor ich auch nur daran denken kann – und außerdem bin ich sehr müde.«
Er ließ sie nicht los. »Mond, bitte, ich brauche dich. Ich brauche dich jetzt gleich. Ich will wissen ... ich will wissen, ob wir auch jetzt noch etwas fühlen, ob wir einander noch etwas bedeuten, inmitten von all diesem... Chaos.« Mit einem Kopfnicken deutete er auf ihre Umgebung.
»Du
brauchst es also!« sagte sie und befreite sich aus seinem Griff, während es innerlich in ihr brodelte. »Und was ist mit meinen Bedürfnissen? Du brauchst mich, die Kinder brauchen mich jeder in dieser Stadt, jeder auf dieser verfluchten Welt, braucht mich – sogar das Sibyllennetz. Und es muß immer sofort sein, nichts kann warten. Alle haben immer nur Ansprüche an mich, keiner fragt mich nach meinen Wünschen. Was
ich
brauche, ist Ruhe. Laß mich in Ruhe, verdammt noch mal, laß mich endlich in Ruhe!«
Ohne ein Wort, ohne einen Blick, verließ er sie und erfüllte ihren Wunsch.
Funke stieg die Wendeltreppe hinunter; er durchquerte die Flure, die Zimmer und gelangte in den leeren, kalten Thronsaal. Er hatte sich in die Vergangenheit und in die Erinnerungen vergraben. In Gedanken sah er Arienrhod, wie sie, ganz in Weiß gekleidet, auf ihrem gläsernen Thron saß, umgeben von dem schneeweißen Teppich. Für ihn war sie der Inbegriff von makelloser Schönheit, Herrschaft und Macht.
Damals hatte er nicht verstanden, wieso Arienrhod und Mond einander so sehr glichen, warum beide ihn begehrten, ihn brauchten und ihn liebten. Genausowenig begriff er jetzt, was plötzlich zwischen ihm und Mond stand – es war wie ein Fluch. Wieso stieß sie ihn auf einmal zurück, nachdem sie eine so weite Reise und soviel Leiden auf sich genommen hatte, um ihn zu finden. Selbst Arienrhod hatte sie herausgefordert, mit ihr um das Recht auf seine Seele zu kämpfen.
Er überquerte die Brücke, die die nun windstille Grube überspannte, durchschritt die Eingangshalle mit den Sommer-Fresken und trat durch das schwere Portal nach draußen. Zu Fuß lief er in die Stadt, obwohl mittlerweile elektrisch betriebene Tram-Bahnen verkehrten, die Passagiere die Straßen hinauf und hinunter beförderten. Er mußte seine Frustration abreagieren, die ihm die Brust zuschnürte, bis er keine Luft mehr bekam.
Wenn ihn gelegentlich jemand grüßte, murmelte er eine zerstreute Antwort. Die Winterleute wohnten traditionsgemäß im oberen Teil der Stadt, wo die ehemals luxuriösen Quartiere noch einen Rest von Außenweltler-Komfort enthielten. Die meisten Angehörigen des Wintervolks arbeiteten jetzt schwer und standen in Diensten der Sommerkönigin. Sie fieberten dem Tag entgegen, an dem ihre nutzlosen Luxusartikel wie durch eine Wunder wieder funktionieren würden; sie warteten nur darauf, die Anführer des neuen Tiamat zu werden, nicht durch eine glückliche Fügung, sondern weil sie selbst eine Wirtschaft aufgebaut hatten und es verdienten, diese Welt zu beherrschen – gleichgültig, mit welchem Ausgang.
Im Vorbeigehen Gesichter prüfend und durch Fenster schauend traf Funke niemanden, dem er seine augenblicklichen Empfindungen hätte anvertrauen können. Mit keinem konnte er darüber reden, was er getan hatte, wie ihm jetzt zumute war, und was ihn immer noch quälte. Auf der Suche nach einem Ziel, einem menschlichen Kontakt, ging er weiter – und aus Gewohnheit landete er im Labyrinth.
Das Labyrinth trennte die Winter- von den Sommerleuten, die immer noch, nahe dem Meer, im untersten Teil der Stadt wohnten, der von schmalen, krummen Gäßchen durchzogen war. Früher war das Labyrinth das Herzstück von Karbunkel gewesen, eine mit Leben erfüllte, pulsierende, neutrale Zone zwischen zwei Welten, während
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