Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
ihm den Schlaf. Er stellte sich vor, wie es war, neben Mond zu liegen, die wie ein lebendiges Abbild Arienrhods aussah wahrscheinlich kehrte sie ihm wieder den Rücken zu, kalt und abweisend vor Erschöpfung und Groll. Sie war nicht nur von ihren Pflichten besessen, sondern auch noch von etwas anderem, das sie in ihrem Innersten berührte, und das er nicht einmal ansatzweise verstand. Das Kleeblatt, das sie trug, als Medaillon und als Tätowierung, hielt sie unausweichlich gefangen.
In einer kurzen Aufwallung von Mitgefühl dämmerte ihm, daß sie mehr Freundlichkeit, Verständnis und Liebe verdiente, als er ihr heute abend entgegengebracht hatte – sogar, daß der neue Funke, zu dem er geworden war, ihren Ansprüchen niemals genügen würde. Gleichzeitig fühlte er sich von ihr vernachlässigt: Sein Leben kam ihm plötzlich sehr eng vor, ihm fehlten die Freiräume, selbst seine Zukunft war verplant.
Er verlangsamte den Schritt, als er die nächste vertraute Gasse erreichte: die Olivin-Allee, in der das Sibyllencollege lag. Dort befand sich sein Büro, in dem er tagsüber mit seiner Frau zusammenarbeitete: er stellte ihr Fragen, die sie in den Transfer versetzten, und notierte die Antworten. Später versuchte er, diese Angaben zu deuten, denn das Sibyllennetz drückte sich oftmals fremdartig und verschlungen aus.
Plötzlich wurde ihm bewußt, wie sehr ihm diese Tätigkeit gefiel, und wie stolz er auf sein Mitwirken war. Wenn er zum Nutzen Tiamats forschte, vereinte er sein zweifaches Erbe. Ursprünglich war er ja nach Karbunkel gegangen, um von den Außenweltlern zu lernen.
Die Beschäftigung mit der Mathematik, ihre Exaktheit und Ordnung, die so vielen Dingen zugrundelagen, machte ihn glücklicher und zufriedener als seine sporadischen Beziehungen zu Menschen.
Einem Impuls folgend, bog er in die Olivin-Allee ein und kehrte dem Palast und seiner Familie den Rücken zu. Er betrat das College und ging durch die dämmrigen Flure in sein Büro. Dort knipste er das Licht an und setzte sich an den Schreibtisch aus ehemaligen Polizeibeständen, den die früheren Besitzer beim Wandel zurückgelassen hatten. Der nutzlose Computerbildschirm starrte ihn wie ein blindes Auge an. In einem Stapel aus maschinengetippten Blättern, handschriftlichen Notizen und Merkzetteln fand er ein altes Buch über eine Fugentheorie, das er beim Stöbern in einem verlassenen Geschäft entdeckt hatte. In den Konturensessel zurückgelehnt, die Füße auf dem Tisch, begann er zu lesen und vertiefte sich in den Text.
NUMMER VIER
World's End
F inster vor sich hinbrütend saß Reede Kullervo in einer Suite im Port Authority-Hotel. Während er an einem Fingernagel kaute, starrte er über den beleuchteten Landeplatz hinweg auf den dahinterliegenden dunklen Dschungel. Scheinbar mühelos stieg eine Raumfähre auf und verschwand in der tiefschwarzen Nacht. Seine Faust schloß sich um die Flasche Ouvung, den er unverdünnt trank; das billige Plastik wurde eingedrückt, und der zähflüssige rote Likör sickerte wie Blut über seine Finger.
Aus dem Nebenzimmer hörte er gedämpfte Stimmen und wirre Geräusche; dort vertrieben sich Niburu und Ananke die Zeit mit einem Spielautomaten. Seufzend trank er noch einen Schluck aus der ramponierten Flasche und blickte dabei in die Nacht hinaus. Alles in diesem Raum roch neu – nach ruhelosen Molekülen, die immer noch aus den Wänden, Stoffen und Möbeln entwichen. Hinter dem Hotel lag ein Meer aus Licht – könnte er durch Wände blicken, hätte er es gesehen –, das Stardrive-Forschungsprojekt und die aus Fertigteilen fabrizierte Stadt, die man mitten im Niemandsland, am Rande von World's End, aus dem Boden gestampft hatte.
»Bei den Göttern!« Fluchend richtete er sich auf und stopfte sich noch eine Handvoll Iestas in den Mund, die er mitsamt den Schalen kaute. Die Schoten schmeckten scheußlich, aber angeblich enthielten sie mehr an beruhigenden Stoffen als die Kerne. Mit einem Schluck Ouvung spülte er sie hinunter. Egal, wieviel Drogen er in sich hineinstopfte, das Wasser des Todes neutralisierte jede Wirkung. Für ihn war es praktisch unmöglich, sich einen Rausch anzutrinken oder von Drogen high zu werden, er spürte nicht den leisesten Effekt. Trotzdem probierte er es immer wieder, auf ein Wunder hoffend.
Er hatte doch nicht den weiten Weg umsonst gemacht! Er verfluchte den Trottel Tubiri, der hätte bestätigen sollen, daß die Kharemoughis Reede Kullervo hierhergeschickt hatten; Tubiri
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