Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
noch sehr gut aus und wirkte jugendlich, obwohl er sehr alt sein mußte, und sich die ersten Anzeichen dafür bei ihm bemerkbar machten, genau wie bei seiner Frau. Ariele trank einen Schluck Wein, wobei sie darauf achtete, daß die Menge gering war, denn sie wollte nicht anfangen zu husten. Nachdem sie geziert von dem Getränk gekostet hatte, gab sie Kirard Set die Flasche zurück.
»Gut gemacht«, lobte Kirard Set lächelnd. »Diese Farben stehen dir gut, Ariele. Wenn ich dich so dastehen sehe, fühle ich mich wieder in die alten Zeiten zurückversetzt ... Ich erinnere mich noch gut, wie
sie
in diesem Kleid ausgesehen hat. Du gleichst ihr sehr, weißt du, und mit jedem Tag wirst du ihr ähnlicher. Du kommst mehr auf sie heraus als deine Mutter, denn du hast ihr Temperament geerbt.«
»Sprichst du von Arienrhod?« fragte Aride unsicher. Sie blickte an ihrem Kleid herab. Aus Arienrhods zahlreichen Besitztümern hatte sie sich ein paar Gewänder herausgesucht und sie für sich umgeändert. So weit sie wußte, hatte ihre Mutter noch nie etwas von Arienrhod getragen. Der bloße Gedanke daran, schien ihr zuwider zu sein, und sie mochte es nicht, wenn Aride die alten Kleider anzog, obwohl sie es ihr nicht ausdrücklich verbot.
Manchmal wünschte sie sich, ihre Mutter würde ein Verbot aussprechen, damit sie ihren Trotzkopf durchsetzen konnte. Der Zorn ihrer Mutter wäre ihr lieber gewesen als ihre abwesende, kummervolle Haltung. Alle ihre Winterfreunde trugen Außenweltler-Kleidung, Erbstücke, die man aus dem früheren Leben herübergerettet hatte. Sie selbst liebte die grellen Farben und die feingesponnenen Stoffe. Solche Kleider hatte sie sich immer gewünscht – und sie hatte sie bekommen. Aber sah sie darin tatsächlich aus wie eine Königin? Lächelnd blickte sie hoch.
»Natürlich«, antwortete Kirard Set leise. »Schließlich war sie ja deine Großmutter.«
»Was?« staunte Ariele. »Nein, meine Großmutter war eine Sommer. Sie starb, ich habe sie nie gesehen ...«
Kirard Set riß die Augen auf. »Bei den Göttern«, murmelte er. »Du weißt es wirklich nicht? Ist es möglich, daß du nicht Bescheid weißt?« Er sah Tammis an, der aus Neugier zurückgekommen war und in der Tür stand. »Hast du noch nie ein Bild von Arienrhod gesehen?«
Aride schüttelte den Kopf.
»In einem Schlafzimmer im dritten Stock hing ein Bild von ihr.«
»Daran erinnere ich mich. Als ich noch klein war, sah ich es mir oft an. Aber es war ein Bild von meiner Mutter«, erwiderte Ariele. »Es gefiel ihr nicht, und die Diener mußten es fortbringen.«
Kirard Set lachte. »Das Bild zeigt nicht Mond, deine Mutter, sondern deren leibliche Mutter, Arienrhod. Deshalb konnte sie es nicht leiden und ließ es entfernen.«
»Das ist nicht wahr«, mischte sich Tammis ein. »Unsere Mutter ist eine Sommer, und unsere Gran auch.«
Ariele gab ihm einen Wink, er solle still sein. Sie setzte sich auf die Chaiselongue winkelte die Beine an. »Hast du dir das alles ausgedacht?« fragte sie Kirard Set, der eine unergründliche Miene aufsetzte. Sie hoffte, er würde sagen, er habe alles frei erfunden.
Statt dessen erwiderte er: »Aber nein.« Lächelnd nahm er neben Ariele Platz. »Es stimmt alles. Möchtest du die volle Wahrheit erfahren?«
Sie nickte heftig und schielte zu ihrem Bruder hin. Tammis schien zu zaudern und blickte zur Tür. Er furchte die Stirn, wie wenn er Angst hätte, die Geschichte zu hören, doch dann hockte er sich im Schneidersitz neben Elco Teel, der bäuchlings auf dem Teppich lag und das Kinn in die Hände stützte. Merovy, die diskret versucht hatte, Tammis aus dem Zimmer zu ziehen, gab gleichfalls nach und setzte sich zu den anderen. Sie schaute noch bedrückter drein als sonst.
Kirard Set lehnte sich genüßlich in die weiche Chaiselongue zurück und setzte die Flasche an die Lippen. Nachdem er getrunken hatte, fing er an zu erzählen. »Nun, die Geschichte begann vor sehr langer Zeit, als noch keiner von euch geboren war.« Seine Mundwinkel zuckten. »Arienrhod regierte als Schneekönigin, seit die Hegemonie pünktlich zum Wechsel eingetroffen war, und die Sommerkönigin aus dem Goodventure-Clan ein feuchtes Ende nahm. Fast einhundertundfünfzig Jahre lang war sie die Schneekönigin, und sie wußte, daß die Außenweltler uns ausbeuteten, manipulierten und uns die rechtmäßige Gleichstellung in der Hegemonie verwehrten. Ihr war klar, daß man sie ins Meer werfen würde, wenn die Außenweltler wieder abreisten, und
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