Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
das in der Mitte einen vagen, nicht deutlich zu erkennenden Kern enthielt. »Aber ist es denn nicht meine Schuld, daß er hinabgestürzt ist?« Sein Erlebnis kam ihm jetzt vor wie ein Traum, ihm war, als hätte er das alles gar nicht wirklich erlebt – die hinabfallende Gestalt, der Schrei, der kein Ende nehmen wollte ... Zitternd sah er seine Mutter an. »Es passierte wegen mir.«
»Er wollte dir helfen«, flüsterte seine Mutter; er sah, daß ihre Augen sich mit Tränen füllten. »Dabei ist er abgestürzt. Es war ein Unfall ... Du kannst nichts dafür.«
»Da ... Da war auch bei mir«, sagte er mit rauher Stimme. »Er hat es genau gesehen; er meint, ich hätte den Sturz verursacht. Ich sah es in seinen Augen.«
»Er hat nicht verstanden, was mit dir passiert ist«, erklärte Mond. »Aber er wird es noch begreifen. Bei mir hat er es ja auch erlebt ...« Sie brach ab. »Wenn es passiert, dann packt es dich, und du kannst nicht.; dagegen tun, überhaupt nichts.« Sie zog ihn in die Arme und wiegte ihn wie ein kleines Kind.
Als jemand das Zimmer betrat, ließ sie ihn wieder los. Es war Danaquil Lu. In seinen Augen erkannte Tammis den gleichen mitfühlenden und verstehenden Blick, den er schon bei seiner Mutter gesehen hatte.
»Er ist gerufen worden, nicht wahr?« sagte Danaquil Lu zu Mond. »Ich habe die Zeichen erkannt.«
Sie nickte und richtete sich gerade auf. »Ja.«
»Dann ist die Grube also eine Weihestätte?« wunderte sich Danaquil Lu. »Wie ist das möglich?«
Mond schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Ein beinahe schmerzlicher Ausdruck huschte über ihr Gesicht.
Danaquil Lu zögerte. »Du hast die Stürme über der Grube besänftigt ... Glaubst du, das könnte damit zusammenhängen?«
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte sie förmlich; sie wirkte befangen, als wüßte sie mit einemmal nicht, was sie sagen sollte. Zaghaft berührte Tammis ihren Arm.
Sie zuckte zusammen, als habe er sie aus einer Trance gerissen.
Danaquil Lu durchquerte das Zimmer und blieb vor ihnen stehen. Tammis starrte auf das Kleeblatt-Medaillon, das auf seinem groben Hemd glitzerte, dann stierte er das Medaillon an, das seine Mutter trug; seine Hände wurden feucht.
»Es ist eine große Ehre, daß du auserwählt worden bist, Tammis«, sagte Danaquil Lu leise. »Doch gleichzeitig hat man dir eine große Verantwortung aufgebürdet. Aber die Tatsache, daß man dich für würdig erachtet, ein Sibyl zu sein, beweist, daß du dieser Last gewachsen bist.«
»Ich will kein Sibyl sein!« widersprach er ruppig. »Weil ich gerufen wurde, kam ein Mensch ums Leben! Meinetwegen mußte Miroe ...« Er brach ab, als er jemanden in der Tür stehen sah – Merovy. Sie kam zu ihm, wobei sie ihren Vater nur mit einem flüchtigen Blick streifte, und setzte sich neben ihn auf die Couch. Am liebsten wäre er von ihr abgerückt, er fühlte sich beschmutzt, wie ein Unberührbarer. Doch sie umarmte ihn, und an der Art, wie sie ihn ansah, erkannte er, daß sich für sie nichts geändert hatte. Schüchtern erwiderte er ihre Umarmung und zog sie an sich. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter.
»Alles hat seinen Preis, Tammis«, sagte Danaquil Lu und zeigte auf die Narben an seiner Wange und seinem Hals; ein Hexenkragen mit eisernen Dornen hatte ihn gezeichnet. Tammis wußte, daß Danaquil Lu von seinem eigenen Volk aus Karbunkel vertrieben worden war, als man Sibyllen noch mit Vorurteilen und Furcht begegnete. »Es gibt immer ein Opfer ...«
Tammis schaute seine Mutter an. Sie nickte bedächtig. »Wenn dein Vater damals zusammen mit mir auserwählt worden wäre – oder wenn man mich gleichzeitig mit ihm abgelehnt hätte –, wären wir nie getrennt worden; dann wäre unser Leben vollkommen anders verlaufen.« Sie zuckte die Achseln. »Nach meiner Weihe wurde unser beider Leben auf den Kopf gestellt, nichts war mehr wie früher. Trotzdem möchte ich es nicht ungeschehen machen«, setzte sie hinzu, als sie seinen fragenden Blick auffing. »Sobald man über gewisse Dinge Bescheid weiß, ändert sich ohnehin alles.« Sie schüttelte den Kopf. »Ach, Tammis, lehne das Geschenk nicht ab, das man dir heute gemacht hat. Miroe hätte das nicht gewollt, und es wäre auch nicht in Jerushas Sinn. Du mußt die Gabe annehmen. Wenn du dich weigerst, müssen wir alle einen sehr hohen Preis bezahlen.«
Tammis senkte den Blick; er vermochte seiner Mutter nicht ins Gesicht zu sehen. Dann wandte er sich an Merovy. »Was soll ich tun?« murmelte er. »Soll ich
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