Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
die hoch droben in der Luft kreisten. Die Westseite des Hauses befand sich dicht am Absturz der Felsnadel, auf der das Anwesen erbaut worden war. Von hier aus ging der Blick ungehindert ins Weite, und bei gutem Wetter konnte er sogar den Ozean sehen. Bereits seit gestern war die Sicht so klar, daß er die der Küste vorgelagerten Inseln zählen konnte.
Nachdem er die Nachricht von Vhanu erhalten hatte, setzte er sich mit KR Aspundh in Verbindung und lud ihn zum Dinner ein. Nicht mehr lange, und Aspundh würde aus der Richtung des Ozeans angereist kommen. Er freute sich auf ihr Wiedersehen, besonders in Anbetracht der Neuigkeit. Denn sehr wahrscheinlich würde es ihre letzte Begegnung sein – und somit seine letzte Chance, sich noch einmal mit Mond in Verbindung zu setzen, bevor er auf ihrem Planeten erschien, und das Schwert der Hegemonischen Macht über der Welt der Tiamataner hängen würde.
Er hörte, wie jemand aus dem Haus trat und drehte sich um; ihm stockte der Atem, als er Pandhara sah, die sich fürs Abendessen umgezogen hatte. Plötzlich konnte er den Blick nicht mehr von ihr abwenden, ihm war, als sähe er sie jetzt zum erstenmal mit offenen Augen. Ihr Haar war mit geschnitzten Kämmen und glitzernden Nadeln zu einer raffinierten Frisur hochgesteckt; das rote Gewand, das sie trug, bedeckte sie züchtig vom Hals bis zu den Füßen, doch bei jeder Bewegung schmiegte es sich an ihren Körper und betonte ihre Reize. Ehe sie bei ihm war, riß er sich von ihrem Anblick los; er kämpfte gegen ein Gefühl der Frustration und Erregung an und fragte sich, ob sie ihm das absichtlich antat. Doch dann erinnerte er sich an ihre erste Begegnung und sagte sich, daß sie halt eine bildschöne Frau sei, mit der Sensibilität einer Künstlerin.
Es sei nur ein Scherz gewesen,
hatte sie letzte Nacht zu ihm gesagt, nachdem sie eine geraume Zeit später ins Zimmer zurückgekehrt war; sauber, adrett gekleidet in einer langen Hose und Tunika, und vollkommen beherrscht.
Sie habe ihn bloß zum Lachen bringen wollen, doch leider den falschen Zeitpunkt gewählt; außerdem sei es ihr schreckhch peinlich ...
Er hatte ihr versichert, daß er sie verstünde; doch es dauerte lange, bis sie ihre höfliche Distanziertheit vergaß und sich wieder in die schlagfertige, lachende Frau zurückverwandelte, auf deren geistreichen Humor und quecksilbrige Stimmungen er sich wochenlang gefreut hatte. Sie zeigte ihm, an welchem neuen Werk sie gerade arbeitete, und dann spielten sie sogar zwei Partien Chama statt einer.
Als sie später auf dem Westbalkon saßen, Lith tranken und das nächtliche Farbenspiel am Himmel beobachteten, erzählte er ihr von Tiamat. Sie hatte ihn nicht darum gebeten, aber in ihren Augen las er den Wunsch, mehr zu wissen und zu verstehen, und er fand, er könne sie nicht ohne eine Erklärung verlassen.
Also erzählte er ihr von dem behüteten jungen Tech, der voller romantischer und arroganter Vorstellungen nach Tiamat gegangen war, in der festen Überzeugung, seinen rechtmäßigen Platz im Universum zu kennen. Er schilderte ihr, was ihm Tiamat und seine Bewohner angetan hatten, und wie er gelernt hatte, Schmerzen, Brutalität und Sinnlosigkeit als sein Schicksal zu akzeptieren.
Lieber das Leben verlieren als die Ehre.
Diesen Bluteid hatte er zusammen in der Schule mit seinen Kollegen geschworen, nicht im Traum daran denkend, in welche Situationen er einmal geraten könnte. Auf Tiamat hatten ihn räuberische Nomaden gefangengenommen und eingesperrt wie ein Tier. Mit dem klebrigen Deckel einer Konservendose hatte er versucht, sich die Pulsadern aufzuschlitzen, und dabei gebetet, er möge sterben ...
Doch er hatte überlebt. Dann brachten seine Peiniger Mond zu ihm – auch eine hilflose, vom Schicksal geschundene Geisel, ein unglückliches Sommermädchen, eingebunden in ein weltenübergreifendes Spiel, das ihren Horizont bei weitem überstieg. jedenfalls hatte er das damals geglaubt. Mond hatte gegen das Hegemonische Gesetz verstoßen, als sie eine Außenwelt besucht und danach wieder nach Tiamat zurückgekommen war. Sie behauptete, das Sibyllennetz selbst habe ihre Rücckehr bewirkt, weil sie auf Tiamat eine Art Heiliger Mission zu erfüllen hätte.
Er hielt sie für ein bißchen verrückt, und es dauerte lange, bis er begriff, welche Persönlichkeit sie in Wahrheit verkörperte. Er verstand erst, nachdem sie ihrer beider Freilassung bewirkt und zuerst seinen Respekt und dann sein widerstrebendes Herz gewonnen hatte
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