Tiamat-Zyklus 3 - Die Sommerkönigin 2 - Die Abkehr der Welt
begann zu schreien, doch man vernahm keinen Laut. Sie hörte auf, sich zu sträuben, und ließ sich abführen, den Blick nach rückwärts gewendet.
»Sagt ihm ...!« brüllte BZ. Die Wachen stießen ihn gewaltsam durch die Tür – und das war das letzte, was sie von ihm sah.
Das erste Licht sickerte in die rastlose Welt unter Karbunkel, zeichnete die Konturen der schwarzen Segelschiffe vor dem grauen Hintergrund nach, und beleuchtete die stillen Gestalten der dort wartenden Menschen mit einem stumpfen Glanz. Mond konnte zusehen, wie der Himmel mit jedem Herztakt heller wurde. Auf dem Wasser bildete sich ein Pfad aus geschmolzenem Licht, der von dem Pier, auf dem sie stand, bis in die flimmernde Scheibe der aufgehenden Sonne führte.
»Jetzt ist es soweit«, verkündete sie, während der kalte Wind der Morgendämmerung durch ihre Seele blies. »Bringt ihn her!«
Jerusha PalaThion und der Trupp Konstabler führten Kirard Set Wayaways an der kleinen Menge von gespannt ausharrenden Zuschauern vorbei zur Königin. Unter dem Pier schaukelte ein Boot mit zwei weiteren Konstablern an Bord, beide Angehörige des Sommervolks.
»Kirard Set Wayaways«, sagte Mond, die das blanke Entsetzen in seinen Augen ungerührt ließ, »man beschuldigt dich, dein eigenes Volk verraten und schikaniert zu haben. Für dein gewaltsames Vorgehen gibt es Zeugen. Es steht nicht in meiner Macht, dich zu richten ...« – ihre Worte schnitten in ihn ein wie Draht – , »denn ich bin nicht die wahre Herrin, sondern nur ein Gefäß IHRES Willens. Deshalb überantworte ich dich nach den traditionellen Gesetzen unseres Volks dem Urteil der See.«
»Du bist wahnsinnig!« stieß Kirard Set zähnefletsehend hervor. »Ich unterstehe nicht euren Ritualen; ich hin ein Winter, das könnt ihr mir nicht antun!«
»Das kannst du Arienrhod erzählen«, sagte Mond mit leiser, erstickter Stimme, »wenn du sie siehst.«
Sie wandte den Blick ab und hörte, wie die Menge hinter ihr zu murmeln begann. Jerusha berührte ihren Arm und zeigte in eine bestimmte Richtung.
Durch das Gewirr aus Docks und Anlegestellen marschierte ein Trupp der Hegemonischen Polizei auf sie zu. Ein kurzes Stück von ihr entfernt, hob der Anführer die Hand, und die Männer blieben stehen.
»Den Göttern sei Dank«, ächzte Kirard Set. »Ich wußte, daß sie kommen würden. Das konnten sie nicht zulassen, du verrücktes Luder – Hilfe!« brüllte er. »So helft mir doch! Sie wollen mich ertränken! Ihr müßt mir helfen!«
Die Konstabler, ausnahmslos Sommerleute, zückten auf einen Wink Jerushas hin ihre Waffen.
Der Offizier ließ seine Leute zurück und näherte sich ihnen, seine leeren Hände baumelten herab. »Herrin.« Respektvoll nickte er Mond zu, ehe er sich an Jerusha wandte. »Guten Morgen, äh ... Kommandantin PalaThion.« Er salutierte, wie um wiedergutzumachen, daß er sich beim Aussprechen ihres neuen Rangs verhaspelt hatte.
Ein Lächeln andeutend, erwiderte sie den Gruß. »Guten Morgen, Leutnant Devu. Was macht eine Patrouille zu so früher Stunde bei den Docks? Das ist doch wohl keine Routineübung, oder?«
»Nein, Kommandantin«, antwortete er, wobei er Mond und die sie umringende Menge unsicher ansah. »Kommandant Vhanu hat uns befohlen, Mers zu jagen. Wir sind im Begriff, an Bord unseres Schiffs zu gehen.« Er deutete hinter sich auf die wartenden Blauen. Mond fiel auf, daß sie eine ungewöhnliche Ausrüstung mit sich trugen, und plötzlich begriff sie, wozu diese Geräte dienten. Sie sah, wie Jerusha erstarrte und fühlte sich selbst wie betäubt. »Aber vielleicht würden Sie mir zuerst erklären, Ma'am, was hier vor sich geht ... Sie wissen, daß unter Kriegsrecht Ansammlungen von mehr als zehn Menschen verboten sind.« Mit einer ruckhaften Bewegung des Kopfs deutete er auf die Menge. »Was haben Sie mit diesem Bürger vor?«
»Dies ist eine Gerichtsverhandlung«, erklärte Jerusha. »Man beschuldigt ihn verschiedener Verbrechen, einschließlich Drogenhandel und Menschenraub.«
Devu runzelte die Stirn. »Eine Gerichtsverhandlung?« staunte er. »Hier? Jetzt? Einfach so?«
»Der Prozeß findet nach den Gesetzen des Sommervolks statt, Leutnant«, mischte sich Mond ein. »Die See wird über ihn richten.«
»Sie wollen mich ertränken!« kreischte Kirard Set. »Helfen Sie mir!«
»Stimmt das?« fragte Devu verdutzt.
»Man bringt ihn hinaus auf das offene Meer, bis die Küste nicht mehr zu sehen ist«, erwiderte Mond ruhig. »Dann läßt man ihn
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