Tiamat-Zyklus 3 - Die Sommerkönigin 2 - Die Abkehr der Welt
hinter dem Horizont verschwand.
Mond setzte sich an das Kopfende des Konferenztisches, der in einem der vielen unbenutzten, hallenden Palastsäle stand. Anfangs, nachdem sie in den Palast eingezogen war, hatte er sie an die zahllosen Dekorationsstücke erinnert, die er enthielt: eine geschmückte Muschel, leer und ohne Funktion. Sie hatte sich in den Hallen gefürchtet, und sich von seiner Größe und Geschichte erdrückt gefühlt; er repräsentierte Arienrhods Vergangenheit, eine Regentschaft, die ihr fremd vorkam, obwohl sie manches mit der Schneekönigin gemeinsam haben mußte.
Aber jenes geheime Wissenszentrum, das sie damals gezwungen hatte, Königin zu werden, veranlaßte sie auch, im Palast wohnenzubleiben, wo sie in erreichbarer Nähe war. Mit der Zeit sah sie ein, daß der Palast mit all seiner Symbolik ein Baustein im Muster ihres Lebens war. Das Bauwerk selbst war weder gut noch böse, sie mußte es akzeptieren, wie so vieles in ihrer Welt, die immer mehr außer Kontrolle zu geraten schien.
Später hatte sie vieles in einem neuen Licht gesehen. Die Außenweltler hatten sie dazu gezwungen, das Sibyllen-College in den Palast zu verlegen, und von da an waren wenigstens einige der weitläufigen Hallen mit Leben und Aktivität erfüllt.
Wenn sie sich nun umschaute und die stuckverzierte Decke, die frischen Wandgemälde und die antiken, importierten Möbel betrachtete, verstand sie, mit wieviel Phantasie und Kunstfertigkeit diese Dinge gestaltet waren. Für sie wurde die Einrichtung des Palastes zu einem Symbol des Potentials, das nicht nur sie selbst, sondern alle die sie umgebenden Frauen und Männer ihres eigenen Volks besaßen, seien sie nun Angehörige der Winter- oder der Sommerclans. Viele hatten mitgewirkt, um die angestrebte Zukunft zu erreichen. Sie erkannte, daß die Besuche von alten Freunden und vertrauten Gefährten in diesem Palast zu den wenigen Vergnügen gehörten, die ihr in ihrem Leben noch geblieben waren.
Und nun, dachte sie, während sich das Bild der auf die Sonnenscheibe zusegelnden
Ariele
in ihre Erinnerungen drängte, waren ihre Freunde ihre einzige Hoffnung. Sie blickte auf den Recorder und den Stapel von Computerausdrucken, die sie mit der Hand hatte kopieren lassen, nachdem Vhanu ihr den Zugang zum Computersystem sperren ließ. Dann schaute sie Tammis an, der neben ihr saß; sein Blick war sorgenvoll, er machte sich Gedanken über seinen Vater und über das ungeborene Kind, das Merovy in ihrem Leib trug. Von rechts wegen hätte sie nichts als Freude empfinden müssen, wenn sie ihn ansah, er verkörperte ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. Statt dessen war sie vollkommen gefühllos, nicht einmal Kummer bedrückte sie. Eine unsichtbare, undurchdringliche Mauer schien sich zwischen sie und ihre Emotionen geschoben zu haben; sie konnte unterscheiden, was in ihrem Leben gut, und was böse war, doch innerlich blieb sie sowohl von Trost wie von Trauer unberührt.
Als sie in die Runde blickte, bemerkte sie die angespannten, bekümmerten Gesichter von Clavally und Danaquil Lu; Fate Ravenglass trug ihren visuellen Sensor wie eine glänzende Krone, und zwei Dutzend weitere Sibyllen saßen erwartungsvoll da. Alles konnte sie ihnen nicht verraten, aber zum Glück durfte sie ihnen soweit vertrauen, daß sie ihnen Informationen ohne eingehende Erklärungen überlassen konnte.
Sie schaltete den Recorder ein, und der unheimliche Choral der Mers füllte die Stille. Allmählich veränderten sich die Mienen der Zuhörer; keiner vermochte sich dem Frieden, dem Ergötzen, der Überraschung und dem Staunen zu entziehen, diesem Spektrum an
Ge
fühlen, das die Gesänge der Mers in den Menschen hervorriefen.
Danach begann sie mit ihrer Rede; sie erklärte, welche Rolle die Sibyllen übernehmen mußten, um die fragmentarischen mathematischen Sequenzen, die sich in den Liedern verbargen, zu vervollständigen. Sie verteilte Kopien mit den Daten, die sie aus Funkes Aufzeichnungen zusammengestellt hatte – und dabei fiel ihr schmerzhaft ein, welche sonderbaren Wege ihre unterschiedlichen Schicksale doch eingeschlagen hatten. Sie beschrieb den anwesenden Sibyllen, zu welchen Schlüssen Funke in seiner Arbeit gelangt war, und während sie sprach, fragte sie sich, wie die Reise, die er unternommen hatte, ausgehen würde; brächte er ihre Tochter von jenem Ort zurück, den die Ondineaner das Land der Toten nannten, oder würde er dort zusammen mit ihr zugrundegehen? Die Sibyllen stellten ihr nur wenige
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