Tiamat-Zyklus 3 - Die Sommerkönigin 2 - Die Abkehr der Welt
zurückschwimmen. Ob er dabei ertrinkt oder nicht, hängt von ihm ab. Die Meeresmutter spricht das Urteil über ihn; seit Jahrhunderten lebt unser Volk nach diesem Gesetz.«
»Es ist glatter Mord!« schrie Kirard Set. »Sie können nicht zulassen, daß man mir das antut! Sie sind doch ein Kharemoughi, ein zivilisierter Mensch, bei allen Göttern!«
»Aber ich bin die autonome Herrscherin über mein Volk.« Mond hob den Kopf. »Er ist einer von uns, und er hat
unsere
Gesetze gebrochen, nicht die Ihren, Leutnant.«
»Wie lautet sein Name?« fragte Devu, Jerusha an schauend.
»Kirard Set Wayaways Winter«, antwortete Jerusha, von einem Fuß auf den anderen tretend, das Stunnergewehr im Arm haltend. »Ein Eingeborener Tiamats.«
»Wayaways?« der Leutnant rieb sich das Kinn. »Hmm«, brummte er und nickte, während er eigenartig lächelte. »Er untersteht nicht unserer Jurisdiktion.« Er wollte sich umdrehen.
»Wenn Sie möchten, können Sie bleiben«, forderte Mond ihn auf. »Sehen Sie ruhig zu, wie unser Rechtssystem funktioniert. Beobachten Sie, wie die See mit Leuten umgeht, die gegen die Gesetze der Meeresmutter verstoßen.«
Lieutenant Devu blickte unbehaglich drein. »Vielleicht ein anderes Mal. Wir müssen uns beeilen.«
»Grüßen Sie den Kommandanten von mir«, sagte sie, während sie ihn durchdringend anstarrte. Er verbeugte sich, nickte Jerusha zu und entfernte sich raschen Schrittes.
»Nein!« gellte Kirard Set, doch Leutnant Devu drehte sich nicht mehr um.
Mond wartete, bis die Außenweltler zwischen dem geometrischen Gewirr aus Schiffsmasten und Maschinen verschwanden. Schließlich wandte sie sich wieder an Kirard Set, der nun schwieg und sie wütend anstierte. »Unser aller Mutter ist bereit«, verkündete sie. Sie zeigte auf die Leiter hinter ihm, die in das Boot hinabführte, das bei Niedrigwasser neben dem Schwimmdock schaukelte.
»Ich komme wieder ...«, prophezeite er trotzig und verzweifelt.
»Wenn die See es so will«, erwiderte Mond gelassen. »Falls du am Leben bleibst, laß dich nie wieder in der Stadt blicken. Die Meeresmutter verzeiht dir vielleicht, ich jedoch nicht.«
Mit zornrotem Gesicht, vor ohnmächtiger Wut kochend, wandte er sich von Mond ab und peilte in die versammelte Menge, wie wenn er dort nach jemandem suchte. Wer immer die Person sein mochte, nach der er Ausschau hielt, er entdeckte sie nicht. Dann stieg er langsam die Leiter hinunter. »Fahrt zur Hölle, jeder einzelne von euch«, fluchte er, ehe sein Gesicht verschwand.
Mond stellte sich an das Geländer, während das kleine Boot mit der Besatzung aus Sommerleuten und dem Gefangenen aus dem Wintervolk, das Segel hißte, und auf dem goldenen Pfad aufs Meer hinausglitt.
»Arienrhod!« kreischte Kirard Set unvermittelt und starrte sie mit Augen wie glühenden Kohlen an; sie wußte nicht, was in ihm vorging.
Als das Boot mit zunehmender Entfernung immer kleiner wurde, merkte sie, daß plötzlich jemand neben ihr am Geländer stand. Zuerst glaubte sie, Danaquil Lu Wayaways habe sich im allerletzten Moment doch noch ein Herz gefaßt und sich dazu durchgerungen, der Aburteilung seines Vetters beizuwohnen. Aber es waren Tirady Graymount, Kirard Sets Frau, und ihr Sohn Elco Teel, die sich zu ihr gestellt hatten. Vorher hatte Mond die beiden nicht unter den Zuschauern gesehen.
Das Gesicht der Frau war blaß, und die Augen lagen tief in den Höhlen; der Blick kam Mond gequält vor, doch Tiradys Mund lächelte, wie wenn er ein Eigenleben hätte. Mit einer Hand umkrallte sie eine leere Likörflasche; einen Arm hatte sie um ihren Sohn gelegt. Besitzergreifend drückte sie ihn an sich, während sie zusah, wie ihr Mann dem Horizont entgegensegelte. Jählings holte sie weit aus und schleuderte die Flasche mit aller Kraft ins Meer. »Hoffentlich ersäufst du!« kreischte sie.
Elco Teel nahm sie in den Arm und führte sie vom Geländer weg; mit völlig ausdruckslosem Gesicht bugsierte er sie wieder in die Meute der Schaulustigen zurück.
Mond sah ihnen hinterher; sie empfand weder Verwunderung noch Mitleid. Sie bemerkte jedoch das Erstaunen auf vielen Gesichtern, und daß Jerusha den Kopf schüttelte. Allein spähte sie wieder aufs Meer hinaus und beobachtete, wie sich das Boot mit dem krebsscherenförmigen Segel immer weiter entfernte. Noch konnte sie am Heck den Namen erkennen, den sie eigenhändig dorthin gepinselt hatte:
Ariele.
Hinter ihr begann sich die Menge zu zerstreuen; sie blieb am Geländer stehen, bis das Boot
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