Tiamat-Zyklus 3 - Die Sommerkönigin 2 - Die Abkehr der Welt
als er von der Tür her Arieles Stimme hörte. Vor Müdigkeit war er wie gelähmt, und er schüttelte den Kopf, um seinen Kreislauf in Gang zu bringen. Es kam ihm vor, als hätte er stundenlang über dem Schreibtisch gelegen, den Kopf auf den Armen, erschöpft, jedoch ohne zu schlafen, während Ariele in ihrem Bett schlummerte und der Realität noch für eine kurze Weile entfloh. Er fragte sich, was sie wohl geträumt haben mochte, und er hoffte, sie würde nicht von den gleichen entsetzlichen Alpträumen heimgesucht wie er.
»Reede? Wo bist du?« Er hörte Panik aus ihrer Stimme heraus.
»Ich bin hier.« Er stand auf und schlängelte sich durch das Labyrinth aus Apparaturen, um sie zu trösten und zu beruhigen. Er wollte nicht, daß sie ihn sah, wie er in seinem Selbstmitleid versank, außerstande zu arbeiten oder zu denken. Er hätte sie und sich selbst umbringen sollen, als er noch die Gelegenheit dazu hatte. Aber irgend etwas, das er nicht verstand, hatte ihn daran gehindert; er hatte sich fürs Überleben entschieden, als der Tod die beste Lösung gewesen wäre.
Ich bin wahnsinnig; ein Feigling; ein Masochist . . .
Diese Selbstvorwürfe kreisten in seinem Kopf, seit er das Bewußtsein wiedererlangt hatte und merkte, daß er sich in der Gewalt der
Quelle befand. Er blickte auf seine nutzlosen, bandagierten Hände.
Doch das Wasser des Todes war wieder in seinem Kreislauf aktiv, es infiltrierte und kontrollierte jede Körperzelle und heilte ihn mit aller Macht. Eigentlich brauchte er die Bandagen gar nicht mehr, doch sie dienten ihm als Vorwand, um seine Forschungsarbeit noch länger hinauszuzögern. Denn nicht seine Hände waren es, die ihm nicht mehr gehorchen wollten, es war sein Verstand. Er konnte nicht einmal mehr simulieren, er täte das, was man von ihm verlangte; alles in ihm sträubte sich dagegen, die schmutzige Arbeit für die Quelle zu tun.
Er dachte nur noch an die Mers und an das Geheimnis, das sich um ihre Existenz rankte.
Die Muster ihrer Gesänge, und die tiefschürfenden Geheimnisse, die er darin entdeckt hatte, verfolgten ihn mittlerweile Tag und Nacht; ihre Lieder kamen ihm fremdartig und gleichzeitig ungeheuer vertraut vor. Für ihn waren die Mers nicht länger bloße Gefäße für das Wasser des Lebens; wer so über sie dachte, beging einen Frevel. Im Grunde ging es auch gar nicht um das Wasser des Lebens, sondern um etwas viel Wichtigeres; es ging um ...
Er war bei Ariele angelangt; als sie sich an ihn schmiegte, spürte er, wie sie unter ihrem seidenen ondineanischen Gewand zitterte. »Was hast du?«
»Ich konnte dich nicht ... finden Reede.« Angstvoll schaute sie zu ihm auf. »Bin ich krank? Sehe ich ...
verändert
aus? Ich fühle mich nicht wohl.«
Mit seinen bandagierten Händen umklammerte er ihre Arme und schüttelte sie resolut. »Du bist gesund. Es geht dir gut.« Zärtlich berührte er ihre Wange und dann drehte er sie so um, daß sie sich in der glatten Oberfläche eines Schranks spiegeln konnte. »Schau. Schau dich doch an. – Siehst du?«
Sie machte die Augen zu, riß sie wieder auf und starrte auf ihr Bild. Dann nickte sie langsam und lehnte sich an ihn.
»Du fühlst dich kräftig«, beharrte er. »So wie ich.« »Ich hatte einen Traum ...« Ihre Stimme bebte. »Siehst du, du hast alles nur geträumt. Es dauert
noch Stunden, bis die nächste Dosis fällig wird.« Intensiv starrte sie ihn an.
»Ich habe die Dosis hier«, murmelte er. »Sie steht bereit, du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.« Er streichelte ihr Haar.
Seufzend klammerte sie sich an ihn. »Ich fühle mich nicht krank. Mir geht es gut ... Ich habe mich nie besser gefühlt. Und es stimmt ja. Du bist so gütig und stark und weise. Ich liebe dich, Reede ... ich liebe dich ... ich liebe dich ...«
Er schloß sie in die Arme und spürte, wie ihm die Galle hochstieg. Mit Mühe unterdrückte er den Schauder, der ihn überlief, weil er sie mit seiner Angst nicht anstecken wollte. Ariele allein konnte ihn von seinen Grübeleien über die Mers ablenken; doch jedesmal, wenn er sie anschaute, wenn er mit ihr zusammen war, quälte er sich mit selbstmörderischen Vorwürfen; es machte ihn krank, wenn er sah, wie ihre Stimmungen zwischen Euphorie und tiefsten Depressionen schwankten.
Als man sie aufgriff, war er in einem so erbärmlichen Zustand gewesen, daß man ihn nicht zwingen konnte, die Tat selbst zu begehen; aber er war Zeuge gewesen, wie man ihr das Wasser des Todes einflößte, und den
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