Tiamat-Zyklus 3 - Die Sommerkönigin 2 - Die Abkehr der Welt
sah, wie der Pirat flüchtig seinen Kragen anschaute, an dem sich nie ein grünes Licht zeigen würde.
»Was ist aus dem Mann geworden, den ich infiziert habe?« erkundigte er sich.
Der Pirat trank seine Tasse leer. »Jemand zerschmetterte ihm den Schädel mit einem Stein. Einen tobsüchtigen Irren können wir hier nicht gebrauchen.«
Vorsichtig stellte Gundhalinu seine leere Tasse auf den Schlackeboden; im selben Moment schien der Grund zu erzittern, und seine Hand zuckte zurück.
»Ein leichter Erdstoß«, erklärte der Pirat. »Die kommen hier ständig vor.«
»Durch die Anziehungskräfte«, murmelte Gundhalinu und hob den Blick, wie wenn er den Gasriesen sehen könne, auf dessen Mond er sich befand, und der seinen violetten Lichtbogen über den Himmel spannte. Seine Gravitation hielt diese viel kleinere Welt gefangen, deren eine Hemisphäre dauernd dem Mutterplaneten zugekehrt blieb, während die andere im Schatten lag. Die durch die orbitale Abtrift dieser beiden Welten erzeugten Kräfte ließen die dämmerige Grenzregion erzittern wie geschüttelte Gelatine; die Gravitationsenergie zwang eine solide Masse, sich wie eine Flüssigkeit zu verhalten.
»Von mir aus.« Der Pirat zuckte die Achseln.
»Gibt es mitunter auch schwere Beben?«
Der Pirat lachte. »Hast du vorhin die Pfähle im Boden gesehen?«
»ja.»Ja.«
»Manchmal sind die Erdbeben so stark, daß der Boden aufplatzt, und wir in die Spalten stürzen. Meistens verlaufen die Risse in nordsüdlicher Richtung. Wir verlegen die Pfähle von Osten nach Westen wie Brücken, und hoffen, wir können uns daran festhalten, wenn der Boden unter uns nachgibt.«
Gundhalinu schüttelte den Kopf, und durch die Bewegung wurde ihm schwindelig; er merkte, wie sein Körper an der Wand hinabrutschte; er wollte sich wieder aufrichten, schaffte es jedoch nicht.
»Ruh dich aus«, meinte der Pirat. »Du kannst hierbleiben, bis du dich kräftig genug fühlst, um zu arbeiten. Was besonderes ist es nicht, aber irgendwo mußt du ja unterkommen. Ich veranstalte eine kleine Sammlung; wenn du wieder fit bist, helfen dir die Männer beim Bau deiner eigenen Hütte.«
Gundhalinu nickte; seine Kehle schnürte sich zusammen, so daß er plötzlich nicht mehr sprechen konnte, und er legte sich wieder hin.
Der Pirat zog die zerlumpte Decke über Gundhalinus Schultern, damit dieser seinen zerschundenen Körper nicht ständig sehen mußte. »Versuch zu schlafen, Verräter; nachdem man geschlafen hat, sieht alles immer ein bißchen besser aus.« Grinsend bleckte er die Zähne. »Bis auf die Tatsache, daß man natürlich wieder hier aufwacht.«
TIAMAT
Karbunkel
J erusha PalaThion stand an Deck des Schiffs, das einst ihrem Mann gehört hatte, und versuchte, sich wieder an das Rollen und Schlingern zu gewöhnen. Rings um sie her schwammen sämtliche Schiffe, die ihre Plantage entbehren konnte, und Dutzende von anderen Booten, von Winter- wie Sommerleuten bemannt, schaukelten auf dem grauen Ozean, über den sich ein trüber, verhangener Himmel wölbte. So weit sie sehen konnte, war das Meer um Karbunkel von Schiffen bedeckt. Auf den Wunsch der Königin waren die Völker Tiamats gekommen, um das Wunder der sich versammelnden Mers mit eigenen Augen zu schauen – und um zu verhindern, daß die Außenweltler sie jagten.
Denn im Wasser wimmelte es von Mers, ihre rastlosen Bewegungen brachten die See zum Kochen; sie glichen einer ungeduldigen Meute, die sich vor einem Tor drängt – doch zu welchem Zweck, konnte sie nicht einmal erraten; niemand hier hatte eine Erklärung dafür. Sie spürte das Trommeln und Vibrieren der Gesänge, die durch den hölzernen Schiffsrumpf geleitet wurden und sich ihrem Körper mitteilten.
Sie fragte sich, was wohl Miroe zu diesem Ereignis gesagt hätte, ob ihm eine Erkenntnis dazu gekommen wäre, die ihr versagt blieb. Seit sie der Hegemonie den Rücken gekehrt und sie ein zweites Mal verraten hatte, seit sie sich wieder voll zu den Tiamatanern bekannte, mußte sie unentwegt an Miroe denken. Sein Andenken umgab sie hier und jetzt – die Erinnerung an ihn lebte in jedem Windhauch, der vom Meer her blies, in jedem Schwanken des Schiffs, in den Stimmen der Tiamataner, die miteinander sprachen und sich gegenseitig etwas zuriefen.
Während der Zeit, als sie Gundhalinus Chefinspektorin gewesen war, hatte sie sich nur selten einen Gedanken an ihn gestattet; sie ließ sich durch die mannigfachen Details ihrer Arbeit ablenken. Er fehlte ihr so sehr, daß die
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