Tiamat-Zyklus 3 - Die Sommerkönigin 2 - Die Abkehr der Welt
Ilmarinen, seinen Geliebten. Ilmarinens ruhige Vernunft, sein Verständnis für menschliche Schwächen, hatten ihn immer erstaunt; seine dunklen Augen gründeten tiefer als die Unendlichkeit, und sein jähes Lächeln bedeutete ihm mehr als hundert Ehrenbezeugungen, tausend leere Gesten des Lobes, die die physischen Götter seiner Welt austeilten.
Ilmarinen war seine andere Hälfte, sein Genius; im Codemuster des Sibyllensystems waren ihre Seelen für immer vereint. Dieses System, das Ergebnis ihrer gemeinsamen Vision, für das sie alles geopfert hatten, lebte auch viele Generationen nach ihrem Tod noch weiter, Gutes bewirkend und freigebig Wissen verteilend; es symbolisierte alles, was sie einander bedeutet und woran sie geglaubt haben.
Ilmarinen .,
rief er.
Ilmarinen?
Aber Ilmarinen war tot, schon vor Tausenden von Jahren zur letzten Ruhe gebettet, wie er auch. Eigentlich durfte er gar nicht hier sein, aufgeweckt nach Jahrhunderten des Friedens, wiederbelebt als Wildfremder in dieser sonderbaren und erschreckenden Existenz.
Dennoch ...
Jetzt fiel es ihm wieder ein; die Erinnerungen, die sich ihm so lange entzogen hatten, kehrten zurück. Er entsann sich, daß er dies selbst gewollt hatte. Nach Ilmarinens Tod hatte er sämtliche Vorkehrungen getroffen, seinen Gehirncode aufgezeichnet und das Programm an einem geheimen Ort versteckt, den nur das Sibyllennetz kannte; es war eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, daß das Netz ihn später einmal brauchen sollte.
Und nun war dieser Zeitpunkt eingetreten. Man hatte ihn wieder zum Leben erweckt, und keiner brauchte ihm zu erklären, was passiert war. Die Konstruktion und das Programm des Systems waren fehlerfrei; als sie Gott spielten und die Mers schufen, war ihnen deren genetischer Code gleichfalls geglückt. Aber sie hatten den Fehler begangen, die menschliche Gier zu unterschätzen. Niemals hatten sie den Wunsch oder die Absicht gehabt, den Menschen das ewige Leben zu schenken. Doch irgendwem war die Langlebigkeit der Mers aufgefallen, man hatte ihr Geheimnis entschlüsselt –und die gnadenlose Jagd begann ...
Und weil man jahrhundertelang die Mers abgeschlachtet hatte, versagte nun das Sibyllennetz. Es hatte ihn zurückgerufen, damit er es rettete,
wenn es noch ging ...
Komm
mit mir,
flüsterte die Stimme.
Hilf mir...
»Kommen Sie mit mir ...«
Er hob den Kopf und schaute in das Gesicht der Sommerkönigin. Langsam wurde ihm bewußt, daß er auf den Knien lag und in Fötushaltung auf der schmalen Brücke kauerte. Sein Körper zitterte heftig, wie bei einem Anfall.
»Helfen Sie mir«, murmelte die Königin, während sie versuchte, ihn aufzurichten. »Sie müssen mithelfen, damit ich Sie in Sicherheit bringen kann.«
»Ich bin nirgendwo sicher ...«, wisperte er. »Nirgendwo
»Doch«, beharrte sie mit sanfter Stimme. »Bei mir.«
Umständlich rappelte er sich hoch und ließ sich von ihr über den schmalen Steg führen. Sie trug kein Licht bei sich, offenbar brauchte sie keines. PalaThion kam ihnen hinterher; als sie die gegenüberliegende Seite erreichten, seufzte sie erleichtert auf und nahm seine Handfesseln ab.
Reede hob die Hände, preßte sie gegen die Augen und versuchte, die erstickenden grünen Schatten wegzubrennen. Dann ließ er die Hände wieder sinken; er
merkte, daß die Königin ihn ruhig und prüfend anschaute. Hinter ihr standen weitere Personen, doch er nahm nur eine einzige wahr – einen kurzen Augenblick lang, in dem sein Herz stillzustehen drohte, glaubte er, Gundhalinu im Dämmerlicht zu sehen. Doch es war der Sohn der Königin, Tammis; neben ihm stand seine Frau und machte ein verschlossenes, ängstliches Gesicht.
Tammis sah nicht Reede an, sondern starrte an ihm vorbei in die Grube.
Er sieht es auch.
Reede rückte ein Stück beiseite, um besser sehen zu können; dann entdeckte er das glitzernde Kleeblatt auf dem Hemd des Jungen.
Weiß er Bescheid?
Er ließ sich ein breite Treppe hinauf und in das Innere des Palasts führen; fasziniert betrachtete er die Umgebung. Er erkannte nichts wieder, dennoch wußte er ganz genau, wo er sich jederzeit befand; er kam sich vor wie jemand, der nach einer jahrelangen Reise nach Hause zurückkehrt.
Sie brachten ihn in eine kleine Bibliothek; der Raum enthielt alle möglichen Informationsmittel, primitive wie hochentwickelte. Ein wandgroßes Fenster gab den Blick auf die silbern schimmernde Silhouette der Stadt, den Himmel und das Meer frei. Er blickte sich in dem Zimmer um, dann gaben seine Knie
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