Tiamat-Zyklus 3 - Die Sommerkönigin 2 - Die Abkehr der Welt
bin eine Sibylle; das Sibyllennetz hat mich erwählt.«
»Deshalb müssen Sie an einem sicheren Ort bleiben, wo ihnen nichts zustoßen kann. Sie werden für mehrere Stunden in einen tiefen Transfer versinken und in das
Bewußtsein des Sibyllennetzes hinabtauchen. Es wird Ihnen zeigen, was verkehrt ist, und diese Informationen werden Sie an mich weitergeben. Ich brauche Sie, damit Sie mich führen, Sie müssen mir Bescheid sagen, wenn der Heilungsprozeß beendet ist. Das ist schon gefährlich genug.« Er merkte, wie sie sich gegen ihn sträubte, daß sie dem Mann mißtraute, der ihr anderes Kind vergiftet hatte. »Drunten im Wasser wären Sie für mich nutzlos. Ich brauche jemanden, der mir bei der Arbeit zur Hand gehen kann – und es muß ein Sibyl sein, der zwischen uns beiden als Mittler fungiert.« Er zeigte auf Tammis.
»Sind Sie denn kein Sibyl?« fragte sie. Langsam dämmerte ihr, was Reede im Sinn hatte.
Er lachte erbittert. »Nein, Herrin«, flüsterte er mit fremder Stimme. »Ich bin kein Sibyl. Sibyllen sind heilig. Ich hingegen bin ein Menschenopfer ...« Tammis erschauerte und starrte ihn an.
Die Miene der Königin veränderte sich. Langsam hob sie die Hand und berührte Reedes Wange, so sachte, als sei er ihr eigenes Kind. Selbst der leichte Kontakt mit ihren Fingerspitzen verursachte ihm Schmerzen; aber er zuckte nicht zurück.
Nach einer Weile ließ sie die Hand wieder sinken. »Ich besorge Ihnen so schnell wie möglich die Daten und die Unterwasser-Ausrüstung«, sagte sie. »Aber wie wollen Sie den Computer erreichen? In die Stadt können Sie nicht gehen; wenn Sie versuchen, ans Meer zu gelangen, werden Vhanus Patrouillen Sie sofort aufgreifen.«
»Es geht trotzdem.« Er rieb sich die Augen und zwang sich zu höchster Konzentration; er durfte jetzt nicht schlappmachen. »Die Grube ist ein Zugangsschacht; sie führt direkt hinunter ins Wasser. Sie ist der kürzeste Weg zu unserem Ziel.«
»Aber es gibt keine Energie – selbst der Schacht funktioniert nicht mehr.«
»Für uns hat das keine Bedeutung«, erwiderte er leise. »Der Computer weiß, daß wir kommen. Ich möchte, daß Sie mit uns in den Schacht hinabsteigen, wir können es nicht riskieren, gestört zu werden. Da drunten kann selbst Vhanu uns nicht erreichen.« Er zögerte, als er sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. »Haben Sie schon einen ausgedehnten Transfer mitgemacht?«
Sie nickte. »Ein einziges Mal. Es war ein Gefühl, wie wenn man ...« Sie verstummte, weil die Erinnerung an diese endlose Abwesenheit sie immer noch quälte.
Wie wenn man ertrinkt ...
»Dieses Mal wird es anders sein«, murmelte er. »Etwas Ähnliches haben Sie noch nie erlebt. Aber machen Sie sich auf Schwierigkeiten gefaßt ...«
»Ich weiß.« Sorgenvoll lächelnd sah sie ihn an. »Nichts ist einfach.« Sie stand auf. »Ich kümmere mich jetzt um das Notwendige«, sagte sie und wirkte plötzlich zerstreut. Einen Augenblick lang betrachtete sie Tammis, dann verließ sie schweigend den Raum.
Mond betrat das Zimmer, das innerhalb des Palastes die ganze Welt ihres Mannes geworden war, bevor er zu seiner Reise nach Ondinee, ins Land der Toten, aufbrach. Langsam schaute sie sich darin um, jede Einzelheit wahrnehmend – das Forschungsmaterial, die importierten elektronischen Geräte, das behelfsmäßige Bett, mit dem er sich begnügte, seit sie ihn von sich gestoßen hatte. Bediensteten hatte er nie erlaubt, sein privates Arbeitszimmer zu betreten; nach seinem Fortgehen hatte sie darauf geachtet, daß sein Wunsch auch weiterhin respektiert wurde.
Sie hockte sich auf die Kante des Feldbetts und nahm ein zerknittertes Hemd in die Hand, das er achtlos beiseite geworfen hatte. Sie drückte es an ihr Gesicht und atmete tief den vertrauten Duft seiner Haut ein, bis sie sich vorstellte, wie sie beide früher nebeneinander gelegen und sich hingebungsvoll geliebt hatten ... Sie erinnerte sich daran, was sie einander jahrelang bedeuteten. Obwohl sie genau wußte, welche Dinge sie sich gegenseitig angetan und welche Chancen sie verpaßt hatten, kamen ihr in diesem Augenblick nur die guten Erinnerungen in den Sinn. Die schlechten durfte sie getrost vergessen, denn nun war er tot. Er war tot ...
Sie ließ das Hemd fallen und stand vom Bett auf; als sie rastlos durch das Zimmer wanderte und an dem Computer vorbeikam, fiel ihr ein, welche Leistungen er damit vollbracht hatte, allein und ohne Anerkennung. Er löste das Rätsel um die Gesänge der Mers, seine
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