Tiamat-Zyklus 3 - Die Sommerkönigin 2 - Die Abkehr der Welt
beiden Armen. »Tammis!« Sie zog ihn vollends herauf und torkelte mit ihm in die Kabine zurück. Auf der Schwelle zur Einstiegsluke brach er in die Knie, wie wenn ihn die Kräfte verließen. Der Sichtschirm des Helms war von innen verschmiert, so daß sie das Gesicht nicht erkennen konnte. Während er an dem Verschluß des Helms herumfingerte, kniete sie neben ihm nieder; kurzerhand schob sie seine flatternden Hände beiseite und nahm ihm selbst den Helm ab.
Der Gestank, der Anblick von Blut ließ sie zurückzucken. Aus einem mit Erbrochenem verklebten, blutigen Gesicht starrten sie Augen an, so klar und intensiv blau wie ein Sommerhimmel. »Reede.« Ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Er nickte und schwankte hin und her. »Herrin ...«, flüsterte er mit kaum verständlicher Stimme. Er brach ab, und versuchte vergebens, sich das Gesicht mit dem Anzugärmel abzuwischen.
»Wo ist Tammis?« Sie packte ihn bei den Schultern; er schrie auf, als sie ihn schüttelte; krank vor Angst, wollte sie ihn zu einer Antwort zwingen. »Wo ist er! Was ist passiert?«
Reede fixierte sie und raffte sich zusammen. »Er ist tot ...«, murmelte sie, während sein Körper krampfhaft zuckte. »Die Turbinen ...«
»Nein ...«, flüsterte sie. »Was? Wie konnte das passieren? Nein ...«, stammelte sie. »Wieso ...?«
»Es hätte mich treffen sollen! Ich mußte nur so lange am Leben bleiben, bis das Sibyllennetz kuriert war Dann wäre meine Zeit abgelaufen gewesen.« Reede sackte vornüber und ballte die Fäuste. »Er ließ es nicht zu. Er hat mein Leben gerettet, dieser Bastard – und wozu? Er befand sich so gut wie in Sicherheit. Er hatte alles, wofür es sich zu leben lohnt. Statt dessen stirbt er an meiner Stelle. Ich müßte tot sein.«
Sie ließ ihn los, und er sackte in eine Pfütze aus Meerwasser, die sich um ihn gesammelt hatte. Sie schloß die Augen, weil sie ihn nicht mehr sehen konnte; plötzlich entstand vor ihr die Szene, wie Miroe gestorben war; sein Tod hatte sich in Tammis' Augen widergespiegelt.
Tammis Tammis
»Tammis!« Auf einmal merkte sie, daß sie seinen Namen wimmerte.
Als sie die Augen wieder öffnete, lag Reede auf dem Boden und stierte sie an. Er hob die Hand, und seine Finger krallten sich in den Stoff ihres Ärmels. »Es tut mir leid ...«, flüsterte er. »Es tut mir leid es tut mir leid es tut mir leid ... Was habe ich Ihnen alles angetan –Ihrer Tochter, Ihrem Sohn. Es hätte mich treffen sollen. Mich ...« Er fing an zu schluchzen. »Mich! Mich!«
Sie bückte sich und hob ihn hoch; ihre Arme zitterten von der Anstrengung. Dann befahl sie der Kapsel, sie nach oben zu tragen; während sie seinen schweren, schlaffen Körper hielt, schloß sich die Luke und fügte sich wieder nahtlos in die Wand ein. Die Kapsel setzte sich in Bewegung und transportierte sie den Schacht hinauf, der noch im Dunkeln lag. Reede an sich drückend, tat sie während der kurzen Zeitspanne so, als gäbe es keine Zeit, als befände sie sich immer noch in der Innenwelt der Außenwelt, in jenem göttlichen Rausch, in dem alles gleichzeitig geschah. Sie bildete sich ein, sie hielte ihr eigenes Kind in den Armen, und nicht diesen halbverrückten Fremden, der im Namen des Sibyllennetzes ihre Familie zugrundegerichtet hatte ...
Doch dann blieb die Kapsel stehen, und über ihr öffnete sich die Luke. Zu schwach, um sich zu bewegen, hob sie den Blick; man rief ihr etwas zu, sie erkannte die Stimmen von Jerusha und Merovy. Außerstande, in ihre Gesichter zu sehen, senkte sie den Kopf. Sie wollte nicht mitbekommen, wie sie reagierten, wenn sie erfuhren, was passiert war.
Reede rührte sich, als er die Stimmen hörte; während der Fahrt nach oben hatte er wie leblos in ihren Armen gelegen. Nun setzte er sich aufrecht hin und schaute sie wortlos an. Sein Blick war benommen, wie wenn er nichts verstünde.
»Mond?« fragte Jerusha mit wachsender Besorgnis.
»Hier bin ich ...«, antwortete sie matt. Sie hörte, wie jemand zu ihnen herunterkletterte, und dann ließ sich
Jerusha in die Kapsel fallen.
Jerushas Blick flackerte nervös von einem zu anderen; ihre Züge verhärteten sich. »Tammis ...«, sagte sie, halb fragend, und sah dabei Mond an.
Mond schüttelte den Kopf.
»O Götter ...«, stöhnte Jerusha. Sie ging zu Mond und zog sie auf die Füße. Wieder wanderte ihr Blick zwischen Mond und Reede hin und her. »Hier oben hat sich nichts geändert«, berichtete sie. »Die Stadt liegt immer noch im Dunkeln. Was ist passiert, Mond?
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