Tief atmen, Frau Doktor!
einem Staubwedel darüber. »Seit zwanzig Jahren ist er tot und ausgestopft. Manche Patienten erinnern sich noch daran, daß ihre Mütter sie damit von Mandeln und Masern ablenkten. Jetzt kommen sie selbst mit Rheumatismus und Bronchitis und anderen Wehwehchen, die wir Ärzte Verfallskrankheiten nennen. Der alte Tiberius hing einfach an der Wand, unergründlich wie eine gehörnte Sphinx. Könnte er nur reden, er wäre eine medizinische Enzyklopädie, besser als jeder Professor. Und dazu wüßte er noch etliche ausgesuchte Details über eine Menge Leute aus Mitrebury.«
Ein markerschütternder Ton ließ die Ärztinnen auf fahren.
»Die Türklingel« , erklärte Mr. Windows und steckte seinen Staubwedel augenblicklich in den Regenschirmständer zurück.
»Unser erster Patient«, sagte Lucy gefaßt.
»Viel Glück, Lucy.«
»Viel Glück, Fay.«
Sie wechselten einen Blick — aufgeregt, erschrocken, stolz, sentimental, amüsiert, alles lag darin. Impulsiv umfaßten sie einander.
»Ich bin hocherfreut, daß ihr einander so gern habt«, bemerkte Liz Arkdale trocken von der Tür her. »Ich habe vorbeigeschaut, um euch Glück zu wünschen. Obwohl die Patienten es weiß Gott besser gebrauchen können als die Ärzte. Irgendwelche Probleme?«
»Ja«, sagte Fay wie aus der Pistole geschossen. »Im St. Bonifaz-Krankenhaus haben wir geglaubt, nicht genug von der Medizin zu verstehen. Jetzt wissen wir es ganz sicher.«
»Ein sehr guter praktischer Arzt braucht nur sehr wenig davon zu verstehen«, tröstete Liz die beiden. »Zum Beispiel die typische Konsultation - der eine ist einigermaßen
guter körperlicher Verfassung, der andere gestreßt, übergewichtig, voll schlechter Gewohnheiten, untrainiert und schlafbedürftig. Das ist der Arzt. Die meisten Leute kommen nicht, weil sie krank sind. Sie kommen nur, damit man ihnen versichert, daß sie es nicht sind. Andere sind alt oder entkräftet und brauchen den Arzt, damit er ihnen hilft, den Lebenskampf bis zum Ende durchzustehen. Manche werden mit den Gefühlen anderer - oder mit ihren eigenen — nicht fertig. Die restlichen Krankheiten sind die, die am vorhergehenden Abend im Fernsehen aufgezeigt wurden.« Sie hob ein merkwürdiges Instrument vom Schreibtisch auf. »Wozu in aller Welt haben die alten Ärzte das verwendet?« fragte sie verblüfft.
»Damit zerschmetterte Dr. Fellows-Smith die Knochen, gnädige Frau«, teilte Mr. Windows ihr mit.
Liz ließ es fallen. »Brrr!«
»Es war seine Entenpresse.« Mr. Windows nahm sie gekränkt an sich.
»Ich nehme an, es ist nicht leicht für euch, an die Popularität der drei alten Ärzte heranzukommen. Sie waren vielleicht gefährlich wie ein Fliegenpilz unter Herrenpilzen, aber in Mitrebury war von ihnen öfter die Rede als von Vater, Sohn und Heiligem Geist.«
»Sonst noch Ratschläge?« fragte Lucy.
Liz überlegte. »Ja. Vergeßt nicht, daß die Frau der Mittelschicht zwei Ehegatten hat. Ihren Mann und ihr Gewicht. Sie macht viel Aufhebens von beiden, beobachtet beide mit Argusaugen und reagiert auf Wohlwollen oder Lieblosigkeit beider in gleicher Weise.« Sie zog Lucys unteres Augenlid herab. »Das gefällt mir gar nicht.«
»Ich bin doch hoffentlich nicht blutarm?« rief Lucy aus.
»Zu viel Eyeliner. Und wenn Sie weiterhin unter Ihrer Bluse oben ohne gehen, Dr. Liston, dann werden Sie von allen Ärzten in Mitrebury am schwersten arbeiten müssen. «
»Was gibt es außer Arbeit sonst noch, Mrs. Arkdale?«
fragte Fay schelmisch. »Ich fürchte, Mitrebury wird langweilig, nach dem Leben im Krankenhaus mit all den Männern. «
»Glauben Sie, mir ist es anders ergangen?« sagte Liz zu ihr. »Das ist beleidigend.«
»Aber Sie haben einen Ehemann«, sagte Lucy.
»Ja, und das schon lange«, beklagte sie sich. »Jetzt muß ich zu einem dringenden Fall in Fenny Bottom.«
»Sie sind noch immer damit beschäftigt, der Welt strahlende kleine Babys zu bescheren?« fragte Mr. Windows und öffnete die Eingangstür.
»Mr. Windows, inzwischen sollten Sie wissen, daß Babys nicht strahlen. Sie sind blaurot, brüllen und haben oben und unten höchst unzuverlässige Gewohnheiten. Ich muß weiter.«
Die Tür fiel zu. Die Glocke läutete. Die beiden jungen Ärztinnen schauten einander abermals mit großen Augen an.
»Das muß unser erster Patient sein«, stellte Lucy fest.
Fay durchsuchte ihre Bluse. »Ich hab's verloren!«
»Doch nicht dein Stethoskop?«
»Meine Hasenpfote. Ach, hier ist sie ja!« Fay küßte sie. Die Tür ging
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