Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)
die furchtbarsten Sachen. Und nach so einem Anfall können sie sich an gar nichts mehr erinnern.«
Ricarda sah mich an. Sie hielt die Lippen fest aufeinandergepresst. Dann sagte sie: »Du hältst mich also für eine Psychotikerin?«
»Dich doch nicht. Du bist ganz normal pubertierend. Da kann man nur abwarten und drüber reden.« Ich strahlte sie an.
»Ja, Mama. Aber nur du redest die ganze Zeit.«
»Wirklich?« Ich schluckte.
»Ja! Und mir geht es gerade wirklich dreckig. Ich hab kein einziges Weihnachtsgeschenk für dich. Ich will nicht Weihnachten feiern und nichts für dich haben, und jetzt kann ich nicht zu euch runter, weil ich so nicht mitfeiern kann.« Sie fing an zu heulen.
Ich dachte einen Moment nach. »Weißt du was? Ich gebe dir ein paar von meinen Geschenken ab.«
Ricarda blickte hoch. »Das würdest du für mich tun?« Sie lächelte schwach. »Mami, danke! Du kriegst alles wieder, bestimmt.« Sie umarmte mich und gab mir sogar einen Kuss.
Natürlich war mir klar, dass sie in kürzester Zeit alles vergessen haben würde, sie war in der Pubertät. Aber heute war Weihnachten, das Fest der Liebe, das konnte ich mir gar nicht oft genug sagen.
Als wir zusammen ins Wohnzimmer traten, gab es ein großes Hallo.
»Wer ist der junge Mann?«, fragte mein Vater.
»Edgar, jetzt halt einfach mal die Klappe«, schnappte meine Mutter, »du bist heute unmöglich.«
»Ilse, wie redest du denn mit mir? Und dann auch noch vor all den Leuten.«
»Diese Leute sind deine Familie, das solltest du jetzt auch langsam mal begreifen.«
»Das weiß ich, dass das meine Familie ist. Ich bin ja nicht blind. Ich habe nur gefragt, wer der junge Mann da ist.«
Meine Mutter zischte: »Das ist deine Enkelin, das ist ja furchtbar mit dir.«
»Gut, dann beenden wir die Sitzung.« Er stand auf.
»Wo gehst du hin?«
»Nach Hause.«
Der Rest der Familie beobachtete die beiden und schwieg betreten. Nur Rose blätterte in einer Bibel, die sie mitgebracht haben musste (wir haben nämlich keine Bibel, wir haben eigentlich überhaupt keine Bücher, wir haben keine Zeit zum Lesen), und summte gedankenverloren vor sich hin.
Ricarda guckte auf den Boden. Aber als mein Vater an ihr vorbeilief, um nach Hause zu gehen, stupste sie ihn zart an: »Opi?«
Er guckte sie an, und plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck. »Ja, Riekchen?«
Mir traten Tränen der Rührung in die Augen. Das hatte er immer gesagt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. »Ich weiß, dass du das nicht böse meinst. Ich hab dich sehr lieb.« Mit diesen Worten nahm sie ihren Großvater fest in den Arm, auch er hielt sie fest umschlungen.
Ricarda weinte.
Ich ging langsam in den Flur, pfiff nach den Hunden und zog meinen Mantel an.
Ich brauchte dringend frische Luft.
16.
Kapitel
Es war schon dunkel. Es nieselte, und die Kälte kroch durch meinen Mantel und legte sich klamm um meinen Körper. Kein Weihnachtswetter, befand ich und schlug den Kragen hoch. Die ganze Zeit über sah ich das Bild von meinem Vater und Ricarda in ihrer Umarmung vor mir. Das hatte mir einen fürchterlichen Stich versetzt.
Immer versuchte ich, die Krankheit meines Vaters zu verdrängen, aber das war nicht der richtige Weg. Ich musste die Realität akzeptieren, so schmerzhaft sie auch sein mochte. Früher oder später würde mein Vater sich gar nicht mehr zurechtfinden. Er zog sich in seine eigene Welt zurück. Er verließ uns, und wir konnten ihn nicht halten.
Ich blieb stehen und guckte in den Himmel. Pechschwarze Nacht. Nicht mal Sternschnuppen gab es in dieser Jahreszeit. Ich musste weinen, ohne recht zu wissen, warum. Meine Tränen mischten sich mit dem Regen, der mir übers Gesicht lief.
Ganz zu Beginn seiner Alzheimererkrankung war mein Vater oft ohne erkennbaren Grund übellaunig und ungeduldig gewesen, er hatte meine Mutter beschuldigt, Sachen weggeräumt zu haben, die er selbst verlegt hatte. Meine Mutter litt sehr unter dieser Situation, die kurz nach seiner Pensionierung aufgetreten war. Anfangs machte sie die veränderten Lebensumstände, die ungewohnte Untätigkeit meines Vaters, verantwortlich für seine Stimmungsschwankungen. Eines Tages dann rief sie mich an und sagte, jetzt sei offensichtlich, was sie schon monatelang befürchtet habe. Mein Vater habe eine Affäre. Wie sich das denn äußere? Ich konnte mir meinen Vater absolut nicht mit einer anderen Frau vorstellen. Er hatte sich zwar nie um uns Kinder gekümmert, aber meiner Mutter gegenüber war
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