Tief im Herzen: Roman (German Edition)
Phillips Stimme klang völlig ruhig, aber in seinen Augen stand die
nackte Angst, als er Cam ansah. »Schieb die Leiter rauf. Schnell.«
Cam traf die Entscheidung in Sekunden, obgleich es ihm wie eine Ewigkeit vorkam. Er schätzte, wie lange es dauern würde, die Leiter an die richtige Stelle zu bringen und zu Seth hinaufzuklettern. Zu lange, entschied er und stellte sich direkt unter dem Jungen auf.
»Laß los, Seth. Laß einfach los. Ich fange dich auf.«
»Nein. Ich kann nicht.« Seths Finger waren wund und blutig und gaben fast nach, als er verbissen und voller Panik den Kopf schüttelte. »Das schaffst du nicht.«
»O doch, wir werden es beide schaffen. Schließ die Augen und laß einfach los. Ich bin hier.« Cam stellte sich breitbeinig auf und ignorierte sein Herzklopfen. »Ich bin hier.«
»Ich hab’ Angst.«
»Ich auch. Laß los. Jetzt!« sagte er so scharf, daß Seth instinktiv losließ.
Sein Fallen schien endlos zu sein. Schweiß strömte Cam übers Gesicht, aber er wandte den Blick nicht von dem Jungen. Er hielt sich bereit, streckte die Arme aus und mobilisierte seine ganze Kraft, als Seth in ihnen landete.
Cam dämpfte den Sturz des Jungen mit seinem Körper, als sie auf den Boden fielen. Er spürte die Erde an seinem nackten Rücken. Aber in Nu war er auf den Knien, drehte Seth herum und drückte ihn an sich.
»Gott! Oh, Gott!«
»Ist alles in Ordnung?« rief Ethan von oben.
»Ja. Ich weiß nicht. Geht’s dir gut, Seth?«
»Ich glaube schon. Ja.« Der Junge zitterte am ganzen Leib, er klapperte mit den Zähnen, und als Cam ihn losließ, um ihm ins Gesicht zu blicken, sah er in weit aufgerissene Augen. Er setzte sich auf den Boden, zog Seth auf seinen Schoß und schob den Kopf des Jungen zwischen seine Knie.
»Bloß erschrocken«, rief er seinen Brüdern zu.
»Gut aufgefangen.« Phillip setzte sich aufs Dach, fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und überlegte,
wann sich sein Herzschlag wohl wieder normalisieren würde. »Mein Gott, Ethan, was hab’ ich mir bloß dabei gedacht, dem Kleinen aufzutragen, Wasser zu holen?«
»War nicht deine Schuld.« Er legte Phillip beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Niemand war schuld. Es geht ihm und uns gut.« Er schaute wieder nach unten, denn er wollte Cam bitten, ihm die Leiter zu reichen. Doch sein Bruder hielt den Jungen noch immer fest. Er hatte seine Wange an den Kopf des Kleinen gepreßt.
Die Leiter konnte warten.
»Atme einfach nur«, befahl Cam. »Laß dir Zeit. Du hast nur keine Luft mehr bekommen, das ist alles.«
»Es geht mir gut.« Seth hielt die Augen geschlossen, weil er Angst hatte, sich zu übergeben und sich ganz und gar zu blamieren. Seine Finger brannten, aber er hatte Angst, sie sich anzusehen. Als er schließlich begriff, daß er festgehalten wurde, daß Cam ihn an sich drückte, war es weder Panik noch Ekel, was ihn durchströmte.
Es war Dankbarkeit, und eine angenehme, fast verzweifelte Erleichterung.
Cam schloß ebenfalls die Augen. Und das war ein Fehler. Denn vor seinem inneren Auge sah er Seth wieder fallen, fallen, fallen, aber diesmal war er nicht schnell genug, nicht stark genug. Er war überhaupt nicht da.
Seine Angst wich plötzlich rasender Wut, und er schüttelte Seth heftig. »Was zum Teufel hast du gemacht? Was hast du dir dabei gedacht? Du Blödmann, du hättest dir das Genick brechen können.«
»Ich hab’ bloß …« Seths Stimme kiekste, was ihn in tödliche Verlegenheit versetzte. »Ich hab’ nur – ich wußte es nicht. Mein Schuh war nicht zugebunden. Ich muß danebengetreten sein. Ich hab’ nur …«
Doch der Rest seiner Worte ging an Cams schweißnasser Brust unter, als er den Jungen wieder fest an sich zog, und Seth seinen schnellen Herzschlag spüren konnte. Er schloß wieder die Augen. Dann hob er langsam, ganz vorsichtig die Arme, um sich an Cam festzuhalten.
»Ist ja schon gut«, murmelte Cam und zwang sich, ruhiger zu werden. »Es war nicht deine Schuld. Du hast mir eine Wahnsinnsangst eingejagt.«
Seine Hände zitterten, und Cam hatte das Gefühl, sich zum Affen zu machen. Er schob Seth ein Stück weit von sich und lächelte ihn an. »Und, wie war der Sprung?«
Seth brachte ein mattes Lächeln zustande. »Ich schätze, es war ziemlich cool.«
»Todesmutig.« Sie waren beide verlegen. »Gut, daß du noch so eine halbe Portion bist. Wenn du mehr wiegen würdest, hättest du mich k.o. geschlagen.«
»Scheiße«, sagte Seth, weil ihm nichts anderes einfiel.
»Du hast
Weitere Kostenlose Bücher