Tief im Herzen: Roman (German Edition)
Schule.«
»Ärgern sie dich?«
»Nein. Steigen wir heute aufs Dach rauf?«
»Das Dach ist fertig«, murmelte Cam und beobachtete amüsiert, wie die beiden Jungen näherkamen und vergeblich Desinteresse zu heucheln versuchten. »Hey, ihr beiden.«
»Was machst du da?« zischte Seth entsetzt.
»Immer mit der Ruhe. Kommt mal her«, befahl Cam, als beide Jungen zu Salzsäulen erstarrten.
»Warum rufst du sie? Das sind bloß Idioten aus der Schule.«
»Ich könnte ein bißchen Hilfe gebrauchen«, sagte Cam nachsichtig. Außerdem würden Seth Gefährten in seinem Alter guttun. Er wartete, während Seth sich wand und die beiden Jungen sich schnell im Flüsterton beratschlagten. Schließlich gab sich der größere von beiden einen Ruck und stolzierte die Straße hinunter.
»Wir haben nichts getan«, meinte er. Sein angriffslustiger Ton wurde durch das von einem fehlenden Zahn herrührende Lispeln geschmälert.
»Das habe ich gesehen. Aber wollt ihr was tun?«
Der Junge blickte zu seinem kleineren Begleiter hinüber, dann zu Seth und zuletzt zu Cam. »Kann sein.«
»Hast du einen Namen?«
»Klar. Ich bin Danny. Das da ist mein kleiner Bruder, Will. Ich bin vorige Woche elf geworden. Er ist erst neun.«
»In zehn Monaten werde ich zehn«, stellte Will fest und stieß seinem Bruder den Ellbogen in die Rippen.
»Er geht noch zur Grundschule«, warf Danny mit spöttischem Lächeln ein, das er großzügig mit Seth teilte. »Zur Babyschule.«
»Ich bin kein Baby.«
Als Will eine Faust ballte und ausholen wollte, griff Cam nach ihm und drückte leicht seinen Oberarm. »Scheint mir kräftig genug zu sein.«
»Ich bin ziemlich stark«, erklärte Will und grinste dann mit dem Charme einer ganzen Engelschar.
»Das wird sich gleich erweisen. Seht ihr den Schutt, der hier herumliegt? Alte Schindeln, Teerpappe, Abfall?« Cam schaute in die Runde. »Und seht ihr den Müllcontainer da drüben? Wenn der Schutt im Container ist, kriegt ihr fünf Dollar.«
»Jeder?« fragte Danny und seine haselnußbraunen Augen hoben sich funkelnd von seinem sommersprossigen Gesicht ab.
»Bring mich nicht zum Lachen, Kleiner. Aber ihr kriegt einen Bonus von zwei Dollar, wenn ihr die Arbeit schafft, ohne daß ich rauskommen und irgendwelche Streithähne trennen muß.« Er wies mit dem Daumen auf Seth. »Er ist der Boß.«
Kaum war Cam gegangen, wandte Danny sich an Seth. Die beiden musterten sich schweigend. »Ich hab’ gesehen, wie du Robert eine verpaßt hast.«
Seth verlagerte gelassen sein Gewicht aufs andere Bein. Es stand zwei gegen einen, kalkulierte er, doch er war bereit zu kämpfen. »Na und?«
»Das war cool«, sagte Danny nur und begann, ausgemusterte Schindeln aufzuheben.
Will grinste Seth an. »Robert ist ein dickes, fettes Monster, und Danny sagt, als du ihn vermöbelt hast, hat er nicht aufgehört zu bluten.«
Seth grinste ebenfalls. »Wie ein abgestochenes Schwein.«
»Oink, oink«, machte Will fröhlich. »Von dem Geld können wir uns drüben bei Crawford Eis holen.«
»Ja … vielleicht.« Seth begann ebenfalls Abfall aufzusammeln, und Will heftete sich munter an seine Fersen.
Anna hatte keinen guten Tag. Gleich morgens entdeckte sie eine Laufmasche in ihrer letzten Strumpfhose, bevor sie zur Tür hinausging. Die Bagels waren ihr ausgegangen, der Yoghurt, ja, mußte sie zugeben, fast alle ihre Vorräte, weil sie zuviel Zeit mit Cam verbracht hatte und somit nicht zum Einkaufen gekommen war. Als sie einen Brief an ihre Großeltern einwerfen wollte, brach sie sich einen Nagel am Briefkasten ab. Ihr Telefon läutete bereits, als sie um halb neun ins Büro kam, und die hysterische Frau am anderen Ende wollte wissen, warum sie ihre Krankenversicherungskarte noch nicht erhalten hatte. Sie beruhigte die Anruferin und versicherte ihr, daß sie sich persönlich um die Sache kümmern würde. Dann stellte die Zentrale einen quengeligen alten Mann zu ihr durch, der darauf bestand, daß seine Nachbarn ihre Kinder mißhandelten, nur weil sie jeden Abend fernsehen durften.
»Das Fernsehen«, meinte er, »ist ein Werkzeug der kommunistischen Linken. Nichts als Sex, Mord und Manipulation des Unbewußten. Ich habe alles darüber gelesen.«
»Ich werde der Sache nachgehen, Mr. Bigby«, versprach sie und zog ihre oberste Schublade auf, wo sie ihr Aspirin aufbewahrte.
»Das sollten Sie auch. Ich hab’s bei der Polizei versucht, aber die legt ja die Hände in den Schoß. Diese Kinder sind verdammt. Man wird sie später
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