Tief im Hochwald - Kriminalroman
wieso sie selbst wohl so ruhig war. Ihr Vater hatte ihr einmal erzählt, dass er während eines Einsatzes mitunter so viel Adrenalin ausschüttete, dass er einen klaren Kopf behielt, bis die Verdächtigen oder die Verletzten eines Unfalls abtransportiert wären. Vielleicht war sie in diesem Punkt wie ihr Vater. Die Frage war nur, wie lange dieser Zustand anhielt. Philipp wimmerte neben ihr.
»Darf ich mich um meinen Freund kümmern?«, stieß Diana stockend hervor.
»Dem passiert schon nichts, der holt jetzt mal die beiden Seile, die ich schon über das Kreuz gelegt habe. Du drehst dich nicht um! Geh langsam vorwärts und komm rückwärts wieder zurück«, wies die Stimme Philipp an.
Philipp stolperte vorwärts, ging um die Matratzen herum und reckte sich nach den Seilen. Rückwärts würde der Weg deutlich schwieriger werden, wenn er nicht über die weichen Matratzen gehen wollte.
»Du bist wohl kein Abenteurer«, höhnte die Stimme. »Wir waren noch viel jünger als du, als wir regelmäßig hier waren. Der alte Pastor hat echte Schnitzeljagden mit uns gemacht, so was kennt ihr gar nicht mehr. Ohne Technik und Internet, echte Zettelchen, die er versteckt hat und anhand derer wir unser Ziel finden mussten. Meistens Bibelzitate, die wir als Ministranten natürlich kennen sollten. Für die Jüngeren war das immer spannend, wir Älteren wussten schon, dass meistens diese Höhle unser Ziel war.« Er schlug mit etwas Metallischem gegen die Schieferwand, die laut widerhallte. »Junge Dame, nicht umdrehen, hatte ich gesagt! Und du machst, dass du zurückkommst«, wies er Philipp an. »Früher gab es hier keine Mädchen, nur Jungen waren als Messdiener zugelassen. Aber deine Freundin ist ja mutiger als du. Dich hätten wir damals wohl nur zum Pilzesuchen mitnehmen können. Aber der Pastor hätte dich gemocht. Du bist ein hübsches Kerlchen, genau wie damals die Zwillinge. Die hatte der Pastor besonders gern … Mensch, Junge, komm endlich her und lass die Seile hinter dich fallen«, unterbrach er sich selbst. Die Stimme klang ungeduldig. Als Philipp gegen die Matratzen stieß, strauchelte er, und der Mann fluchte.
»Zwei Schritte nach rechts, dann zwei Meter rückwärts und wieder zwei Schritte nach links«, sagte Diana so beherrscht wie möglich.
»Genug, der Kleine muss auch ohne deine Hilfe seinen Mann stehen. Du gehst einfach zwei Schritte nach rechts und wartest da. Nicht umdrehen«, wies er Philipp an.
Diana spürte, wie der Druck in ihrem Rücken stärker wurde, und stolperte vorwärts, bis sie neben Philipp stand. Anscheinend besaß der Mann noch eine zweite Waffe, die er nun Philipp in den Rücken stieß, denn dieser ging ohne Zögern neben Diana her, als der Mann sie beide in den Gang auf der rechten Seite des Raumes drängte, wo der Schein der Kerzen nur schwach zu ihnen herüberreichte. Der Druck in Dianas Rücken ließ nach. Wieder dieses Lachen, danach ein metallisches Geräusch wie von einem Scharnier. Es klang, als würde ein Korken aus einer Flasche gezogen und als nähme der Mann einige kräftige Schlucke. Erst in dem Moment nahm Diana wahr, wie durstig sie war.
»Dürfen wir bitte auch etwas trinken?«, fragte sie zaghaft.
»Na, na, na, ihr solltet doch schweigen. Ihr seid auch noch viel zu jung für Alkohol. Das heißt, wir haben uns früher in eurem Alter hier mit dem Pastor getroffen und den guten Messwein getrunken. Die Kirche behält immer das Beste für sich, solche Köstlichkeiten werden nicht mit den normalen Gemeindemitgliedern geteilt.« Wieder dieses metallische Geräusch, und die Stimme klang wieder gedämpft.
»Alles klar?«, raunte Diana, als sie Philipp schluchzen hörte.
»Philipp, ein biblischer Name. Er war der Zweifler unter den Jüngern Jesu, nicht wahr? Und Diana, die Göttin der Jagd, ich erinnere mich an euch aus der ›Post‹. Philipp, du bist doch kein Hellersberger, oder?«
»Nein. Ich … komme aus … Kell«, stammelte dieser.
»Ein Keller Kind, wie schön. Wir hatten immer eine Erzfeindschaft mit Kell, aber das scheint in eurer Generation anders zu sein. Wirf die Seile hinter dich!«
Philipp ließ sie nur fallen, sodass der Mann sich direkt hinter den beiden bücken musste. Diana überlegte, ob sie dies ausnutzen und den Mann mit ihrem ganzen Körpergewicht umstoßen sollte, aber er versperrte den einzigen Weg zurück zum Ausgang, sie würden nicht flüchten können. Stattdessen spürte sie schmerzhaft, wie ihre Arme nach hinten gerissen wurden und das grobe Seil
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