Tief im Hochwald - Kriminalroman
ist, wenn man ein Opfer von Gewalt wird«, redete Charlotte auf ihn ein. »Diese Erfahrung hat Sie Ihr ganzes Leben lang begleitet. Möchten Sie das den Kindern wirklich antun?«
»Die hätten hier nicht eindringen dürfen, das ist meine Höhle.«
»Ich nehme an, die Tür stand offen und sie sind einfach hineingegangen, oder? So sind Kinder eben, die Neugier treibt sie an. Das war doch bei Ihnen als Kind genauso: Der Pastor hatte Macht über Sie, weil Sie neugierig waren. Aber die Kinder haben Ihnen doch nichts getan. Machen Sie die Kinder doch nicht auch zu Opfern, Herr Trost. Ich verstehe, dass Sie sich für das, was Ihnen widerfahren ist, rächen mussten, aber die Kinder trifft keine Schuld.«
Während Charlotte sprach, ging sie vorsichtig weiter auf Trost zu, achtete aber darauf, für ihre Kollegen freies Schussfeld zu lassen. Trost warf den Kopf hin und her, er wirkte unschlüssig, was er tun sollte. Im Gang hinter ihm bewegte sich etwas, was nur Vanessa und Charlotte sehen konnten. Trost hingegen schien nichts um sich herum wirklich wahrzunehmen.
»Was der Pastor Ihnen damals angetan hat, hat Sie traumatisiert. Das war ein schlimmes Vergehen des Pastors. Sie sind doch ein sehr intelligenter Mensch und machen sich viele Gedanken um Ihr Leben. Ich glaube nicht, dass Sie den Kindern etwas Ähnliches antun möchten. Dazu haben Sie selbst zu sehr unter Ihrer eigenen Kindheit gelitten. Das würde auch gar nicht zu Ihnen passen. Ihre Opfer sind alle schnell und schmerzlos gestorben, Sie wollten sie nicht leiden lassen. Das war sehr gnädig von Ihnen, Herr Trost. Sie sollten auch zu den Kindern gnädig sein.«
Trost hing an den Lippen der Psychologin, eine Träne glitzerte auf seiner Wange. Er stand leicht nach vorn gebeugt, seine Arme hingen kraftlos an seinen Seiten. Seine Augen wirkten, als sei er völlig weggetreten, und er nahm die Bewegung hinter sich im ersten Moment nicht wahr. Die beiden Jugendlichen rannten den Gang entlang, ihre Schritte hallten laut im Stollen wider, ihre Schatten huschten über die Wände. In dem Augenblick, als Trost die beiden bemerkte, wirbelte er zu ihnen herum. Ohne zu zögern, stürzten Gunter, Landscheid und selbst der humpelnde Erschens aus dem gegenüberliegenden Gang an Vanessa und Charlotte vorbei auf Trost zu und rissen ihn gemeinsam zu Boden. Vanessa sprang zur Seite, um den Kerzenständer zu sichern, der gerade umkippte und in Richtung des offenen Kanisters fiel, während Charlotte sich den Kanister griff und zum Ausgang lief. Erschens sah über Trosts Schulter hinweg seine Tochter an, zog Trosts Kopf an den Locken hoch und schmetterte ihn auf den Boden.
Vanessa konnte deutlich das Splittern von Trosts Nase hören. Sie zog Erschens zurück, während Landscheid aus seinem Hosenbund Handschellen hervorzog und sie Trost anlegte, der sich nicht einmal wehrte.
Peter Erschens schloss seine Tochter fest in seine Arme und wandte sich mit ihr zum Ausgang. Vanessa legte einen Arm um Philipp und folgte den beiden. Als sie ans Tageslicht traten, stiegen Bernadette, Georg, der Freak und Frau Dr. Schulze-Obersehr aus den Wagen. Der Freak reckte den Daumen in die Höhe, und Georg wollte Vanessa in den Arm nehmen, aber die wandte sich der Ärztin zu:
»Bitte kümmern Sie sich um die beiden.« Sie blickte an Diana und Philipp hinunter. »Sie haben zwar leichte Blessuren im Gesicht, abgeschnürte Handgelenke und ein paar kleinere Schnittwunden an den Händen und Unterarmen, aber ich sehe keine gravierenden äußeren Verletzungen. Wichtiger ist vielleicht, ob die beiden etwas zur Beruhigung brauchen. Und anschließend bräuchten wir möglicherweise ein wenig Erste Hilfe bei einem Nasenbruch, aber die Kinder gehen für mich vor.«
Bernadette war auf die Eingangstür zugegangen und kam nun zu der Gruppe zurück. Sie hielt einen einzelnen, verrosteten Schlüssel in die Höhe.
»Der hier hing beim Pastor am Schlüsselbrett. Ich habe ihn ausprobiert: Er passt ins Schloss, aber er sieht so aus, als sei er schon lange nicht mehr benutzt worden. Außerdem lag der Briefblock nach wie vor auf Feldmanns Sekretär, seine Handschrift war so energisch, dass sich die Schrift auf das nächste Blatt durchgedrückt hat. Im Papierkorb daneben lagen einige Entwürfe seines Abschiedsbriefs, alle in der gleichen Handschrift verfasst, und es wirkte nicht so, als habe er die Briefe unter Zwang geschrieben. Auf dem Küchentisch lag ein Einkaufszettel, meiner Meinung nach in der gleichen Handschrift. Große
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