Tief im Hochwald - Kriminalroman
sich allein gestellt. Zwischen Hellersberg und Hermeskeil gab es eine traditionelle Rivalität, sodass Heiner niemals den Kollegen gegenüber eingestanden hätte, dass ihn die Situation überforderte. Er wusste nicht genau, ob dieser Teil des Wanderweges wirklich zu seinem Gebiet gehörte, und hielt es für sicherer, die Kollegen in Trier zu verständigen. Es komme jemand raus, wurde ihm am Telefon versichert.
»Geht es schnell?«, erkundigte sich Heiner bei dem Kollegen aus Trier.
»Wieso, ist Gefahr im Verzug?«
»Nein, nein«, erwiderte Heiner mit einem Blick auf seine Armbanduhr. »Nur … Es ist schon nach elf Uhr, und heute ist Freitag.«
»Ja? Und?«, erkundigte sich der städtische Kollege.
»Na, um zwölf mache ich freitags immer Feierabend!«
Wortlos wurde am anderen Ende aufgelegt.
Als er endlich wieder zu Hause war, legte sich Hajo erschöpft aufs Bett und schlief umgehend ein. Es war fast sechszehn Uhr, als er die Augen wieder aufschlug. Verdammt, Lederallergie, dachte er sich. Das war immer schon so gewesen: Jedes Mal, wenn er wach wurde und Schuhe trug, hatte er Kopfschmerzen. Er versuchte, sich die Geschehnisse des Vormittags ins Gedächtnis zu rufen; als jedoch die Erinnerungen auf ihn einströmten, wäre er froh gewesen, sich lieber nicht erinnern zu können. Er tappte, völlig aus dem Rhythmus gekommen, ins Bad, zog sich aus und duschte so kalt wie möglich. Langsam kamen die Lebensgeister wieder, und sein Kopf wurde erschreckend klar. Dieser Tote hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Ob Heiner und seine Kollegen aus Trier schon eine Ahnung hatten, wer er war und was passiert sein könnte? Um achtzehn Uhr war er, wie jeden Freitag, mit Heiner und dem Pastor zum Skat verabredet, da würde er hoffentlich mehr erfahren. Hajo machte sich fertig und lief zu Heiners Haus im Ortskern. Sein Vater sei noch im Büro, sagte ihm Thorsten, Heiners Jüngster, es bestehe offenbar der Verdacht, dass die Ehefrau des Toten den Mann erschlagen haben könnte. Hajo ging zu Fuß zur Polizeidienststelle, wobei er schon vor der Tür die Bäckersfrau traf.
»Hajo, hast du schon gehört, dass Heiner einen Toten gefunden hat?«, hielt sie ihn aufgeregt an.
»So ähnlich, ja«, erwiderte Hajo zurückhaltend.
»Und zurzeit hat er eine Frau bei sich, das ist sicherlich die Mörderin. Eine ganz Schlanke mit feuerroten Haaren und irren grünen Augen. Sie sieht aus wie eine Hexe. Du solltest da besser nicht reingehen, wer weiß, ob sie dich nicht auch verhext«, riet sie Hajo.
»Oh, Cordula, gut, dass du mir das sagst. Da will ich mal ganz schnell sehen, ob ich Heiner vor der Hexe retten kann«, antwortete Hajo, der nicht wirklich an Hexen im Hunsrück glaubte.
Als er die Dienststelle betrat, sah er zunächst niemanden, hörte aber Stimmen aus dem angrenzenden Büro, in dem Heiner für gewöhnlich nur saß, wenn er vor seinen Mitarbeitern seine Ruhe haben wollte. Da er im Moment üblicherweise allein Dienst schob, musste es andere Gründe dafür geben, dass er das Büro nutzte.
»Heiner, bist du da?«, fragte Hajo vorsichtig nach hinten.
»Hajo, bist du das?«, kam als Antwort durch die offen stehende Bürotür.
»Kann ich dir irgendwie helfen, Heiner?«, fragte Hajo.
»Komm durch, ich mache dich mit jemandem bekannt.«
Hajo ging zögernd in den hinteren Raum durch und verstand spontan, wovor die Bäckersfrau ihn hatte warnen wollen. Eine schlanke Frau Ende dreißig mit sprühenden Augen und leuchtend roten Haaren saß auf dem Stuhl vor Heiners Schreibtisch und funkelte Hajo an. Sie trug eine Hose, die einmal weiß gewesen sein musste, aber nun verstaubt und fleckig an den Knien war. Ihre grünen Schuhe schienen vom Waldboden schmutzig und verstaubt zu sein, obwohl sie eher für eine Tanzveranstaltung als für eine Wanderung geeignet zu sein schienen. Die ebenfalls grüne Bluse, die die Dame trug, war viel zu dünn für diese Witterung. Sie wirkte so, als habe sie für heute ganz andere Pläne gehabt und sei von irgendetwas überrascht worden. Wer war sie? Die Ehefrau des Toten, wie die Bäckersfrau angedeutet hatte?
»Darf ich euch miteinander bekannt machen?«, sagte Heiner, stand auf und kam um seinen Schreibtisch herum. »Frau Vanessa Müller-Laskowski, die Kollegin aus Trier«, er wies auf die schlanke Rothaarige, die auf einmal gar nicht mehr so gefährlich wirkte, »Herr Hans-Joachim Nert, mein Freund und Skatbruder und der unglückliche Finder unseres toten Saarländers.«
Hajo nickte der Fremden zu,
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