Tief im Hochwald - Kriminalroman
eigentlich mit meinen Kollegen führen, nicht Johannes als Laie«, wandte Vanessa ein.
»Sieh es nicht als Ermittlung, sieh es in dem Fall als Vergangenheitsbewältigung.«
»Aber du weißt, dass Johannes sich damit in Gefahr bringen kann, wenn sich der Täter in die Enge gedrängt oder entlarvt fühlt? Es wäre besser, wenn Johannes uns Namen nennt und dadurch hilft, die Zusammenhänge zwischen den Morden zu klären.«
»Er wird ja gleich kommen«, beschwichtigte Hajo sie. »Bislang hatte ich nicht darüber nachgedacht, aber heute, wo Johannes mich darauf hingewiesen hat, ist es doch wirklich auffällig, wie wenige aus Johannes’ Grundschulzeit Kinder haben. Und wie wenige überhaupt in einer festen Beziehung sind. Oder wie wenige eine Arbeit haben beziehungsweise eine Arbeit, bei der sie mit anderen Menschen Umgang haben müssen. Die wenigsten jedenfalls sind Teil eines Systems, sie sind keine normalen Angestellten oder so.«
»War da nicht einer dabei, der Rechtsanwalt in Frankfurt ist?«
Hajo blickte auf. »Ja, darüber bin ich auch gestolpert. Das klingt im Gegensatz zu vielen anderen alles andere als gescheitert. Aber weißt du, welche Leute er überwiegend vor Gericht vertritt?«
Vanessa schüttelte stumm den Kopf.
»Er vertritt Opfer von sexuellem Missbrauch. Sowohl Missbrauch an Kindern, wie es von verschiedenen katholischen Schulen und Internaten bekannt geworden ist, als auch Missbrauch an Ehefrauen oder beispielsweise Stiefkindern. Und wie mir scheint, ist er da bei der Wahl seines beruflichen Schwerpunktes durchaus von eigenen Erfahrungen geleitet worden.«
»Sind denn wirklich so viele Hellersberger von hier weggezogen? Ich meine, mehr, als eine sozusagen normale Landflucht rechtfertigt?«, fragte Vanessa.
»Einige wie der Metzger oder der Schreiner haben die elterlichen Betriebe übernommen, aber sonst gibt es auffallend viele wie diesen Martin Winter, ehemals Marx, die Hellersberg verlassen haben, sobald sie alt genug dafür waren. Oder auch Rommelfanger, Trost und einige andere, die erst einmal weg sind, um nach vielen Jahren erst wieder nach Hause zurückzukehren.«
»Aber für Johannes gilt das nicht. Was ist bei ihm anders?«
»Ich habe einmal einen Film darüber gesehen, dass viele Missbrauchsopfer ihre Erinnerungen sozusagen verkapselt in sich herumtragen. Auf die Erinnerungen haben sie im normalen Alltag keinen Zugriff mehr. Darum kann ich gar nicht beurteilen, ob Johannes wirklich nur Zeuge und selbst kein Opfer im körperlichen Sinne war oder ob er aus Selbstschutz keine Erinnerung mehr daran hat«, murmelte Hajo.
»Ich wünsche ihm, dass es die erste Variante ist. Ich frage mich nur, warum der Täter jetzt plötzlich zuschlägt. Wir werden nachforschen müssen, ob einer der jungen Männer aus Hellersberg neuerdings in Therapie ist oder ob eine Situation eingetreten ist, die sozusagen diese Erinnerungskapsel gesprengt und die alten Geschichten ans Licht gebracht hat. Ich werde mit unserer Psychologin darüber sprechen müssen. Das ist ein ganz wichtiger Ansatz bei den künftigen Verhören. Ich fürchte, wir werden alle kommenden Vernehmungen mit psychologischer Unterstützung führen müssen.«
Hajo sah Vanessa mit einer Mischung aus Verständnis und Abscheu an. »Du sprichst von diesen Menschen, als seien sie Verbrecher. Vanessa, es sind Opfer. Es sind Männer, die Schreckliches erlebt haben, was sie vermutlich für ihr ganzes Leben geprägt hat. Wie kannst du da von Verhören sprechen?«
Vanessa seufzte. »Hajo, ich gebe dir absolut recht. Aber wenn eure Theorie stimmt, scheint einer dieser Männer nicht mehr nur Opfer, sondern inzwischen selbst Täter zu sein. Wir müssen den Spagat schaffen, die Männer so behutsam und verständnisvoll wie nötig zu befragen und trotzdem nicht aus dem Blick zu verlieren, dass einer von ihnen die ihm widerfahrenen Demütigungen heute in Form von blanker Wut und Gewalt gegen andere Hellersberger richtet. Und die wichtigste Frage dabei ist, nach welchem Schema er sich seine Opfer aussucht. Wenn das alles stimmt, und ich habe keinen Zweifel an Johannes’ Aussage, dann müssen wir vor allem erwirken, dass ein damaliges Opfer den Pastor anzeigt. Ich bin in diesem Thema keine Expertin, aber das Alter des Opfers, die Schwere der Tat und wie lange diese schon zurückliegt, wird einen Einfluss darauf haben, ob der Pastor nach wie vor belangt werden kann.«
»Vielleicht kann Johannes uns dazu Näheres sagen.«
»Unter diesem Gesichtspunkt gibt es
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