Tief im Hochwald - Kriminalroman
mitunter ganz neue Aspekte, die wir bislang gar nicht in Betracht gezogen haben«, stimmte Vanessa zu.
Hajo legte ein Holzscheit nach, und das Feuer loderte auf. Vanessa verharrte schweigend auf dem Sofa und starrte in die Flammen. »Aber wieso wird dann nicht der alte Pastor ermordet? Wieso so viele Morde, ohne an den eigentlichen Übeltäter heranzugehen? Durch die vielen Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche, die in letzter Zeit bekannt geworden sind, wäre es ein Leichtes, den Pastor öffentlich anzuklagen. Da muss etwas anderes dahinterstecken, aber ich verstehe es bisher nicht«, sagte sie schließlich.
Sie hörten, wie die Haustür aufgeschlossen wurde und Johannes die Diele betrat. Er kam mit einem großen Tablett mit belegten Brötchen ins Wohnzimmer, stellte es auf dem Couchtisch ab und drückte erst seinen Vater herzlich und grüßte danach Vanessa mit den in Luxemburg und der Umgebung üblichen Wangenküsschen links und rechts.
»Schöne Grüße von Jungbluts, wir sollen es uns schmecken lassen. Ruth Eiden hatte den Totenkaffee bereits vorbereitet und konnte mit den Brötchen selbstverständlich nichts mehr anfangen. Den Kuchen und die Suppe kann sie für morgen aufheben, aber die Brötchen müssen heute weg. Sie hat Jungbluts die ganzen Brötchen vorbeigebracht, sie sollten sehen, was sie damit machen, schließlich hätten sie sie auch bezahlt. Ich denke, der wahre Grund, warum sie vorbeigekommen ist, war der, dass sie in Erfahrung bringen wollte, was heute wirklich bei der Trauerfeier war.«
»Und, wie viel haben Jungbluts preisgegeben?«, wollte Vanessa wissen, um sich auf den Kenntnisstand im Dorf einstellen zu können.
»Jungbluts haben ihr im Wesentlichen mitgeteilt, dass die eigentliche Bestattung morgen nach der Messe nachgeholt wird«, erzählte Johannes. »Ruth Eiden wollte natürlich wissen, warum es erst geheißen habe, Gieselind wolle in aller Stille beerdigt werden, und auf einmal doch nicht, aber Maria hat erstaunlich gelassen reagiert und ihr erklärt, es sei ein Irrtum gewesen, sie wollten die gemeinsame Feier am Sonntag machen. Dann hat sie Ruth gebeten, den Totenkaffee für morgen vorzubereiten, hat sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigt und Ruth um Verständnis gebeten, dass sie und Hermann gern allein sein möchten. Auf weiteres Nachfragen von Ruth hat sie einfach gar nicht reagiert.«
»Heißt das, alle Schuld bleibt am Pastor hängen? Das fände ich sehr bedauerlich, schließlich hat er außerordentlich geistesgegenwärtig reagiert und uns vor einer Massenpanik und vor allem vor der Zerstörung von Spuren bewahrt«, merkte Vanessa an.
»Maria war heute Nachmittag sehr gefasst. Sie sagte zu mir, die Tränen seien schon geweint. Ihre Schwiegermutter habe sich seit Tagen dem Tod gegenübergesehen, und sie hätten Zeit gehabt, um sich von ihr zu verabschieden. Sie möchte morgen in der Kirche eine Erklärung abgeben, das wollte sie mit Pastor Lämmle genauer besprechen. Oma Jungblut war früher so gläubig, ich habe nie verstanden, warum sie nach Udos Tod nie wieder in der Kirche war, aber so langsam wird alles klar.« Johannes nahm sich ein Brötchen mit rohem Schinken und knabberte gedankenverloren an der Gurkenscheibe, die zur Dekoration darauflag.
»Dein Vater hat schon angedeutet, was Pastor Feldmann euch in der Vergangenheit angetan hat. Was hat das mit Oma Jungblut zu tun?«, fragte Vanessa.
»Udo wurde damals von Pastor Feldmann wohl mehrfach körperlich missbraucht. Er wollte mir damals davon erzählen, aber er hat sich zu sehr geschämt, darum hat er nur Andeutungen gemacht. Er sprach davon, dass beide nackt waren, dass es meist dunkel war, aber er beließ es bei nebulösen Schilderungen von Zärtlichkeiten und anscheinend mehr. Wir werden wohl nie erfahren, was wirklich passiert ist, vielleicht Oralverkehr, vielleicht Analverkehr, es ist Udos Geheimnis geblieben. Wir waren ja zusammen Messdiener, aber mir hat der Pastor nie etwas getan, deshalb habe ich seine Schilderungen angezweifelt. Ich habe ihm geraten, er solle es seiner Mutter erzählen. Ich habe meiner Mutter alles erzählen können, darum dachte ich, Udo könne das auch. Aber seine Mutter hat damals gesagt, das könne nicht stimmen, und hat ihn übel bestraft. ›Der Pastor macht so was nicht!‹, hat sie gesagt. Und Jungen passiere das sowieso nicht, nur Mädchen würden missbraucht, Jungen nicht, das gäbe es überhaupt nicht. Langsam hat Udo selbst an dem gezweifelt, was er erlebt
Weitere Kostenlose Bücher