Tief im Hochwald - Kriminalroman
haben, soweit ich mich im Nachhinein erinnern kann, nur die Zwillinge gefehlt.«
»Ich höre immer wieder von den Zwillingen, was war an ihnen anders als an den übrigen Jungen?«
»Sie waren so engelsgleich. Und sie hatten nur sich. Die Mutter war immer schon krank, sie musste geschont werden, durfte sich nicht aufregen. Ich weiß nicht, was sie hatte. Und der Vater war sehr einfach gestrickt und ziemlich laut und polternd, vermutlich auch gewalttätig gegenüber seiner Frau und seinen Kindern. Er hat in der Türenfabrik gearbeitet und hatte da irgendwann einen tödlichen Unfall, mag sein, dass das kurz vorher war. Die beiden hatten auch nie andere Freunde, die waren immer zu zweit, haben sich nie voneinander getrennt, haben alles unter sich ausgemacht. Vermutlich haben sie einerseits die Zuwendung des Pastors genossen, weil es für sie ein völlig ungewohntes Gefühl war, jemandem etwas zu bedeuten. Wenn ich heute darüber nachdenke, haben sie sich ihm gegenüber vielleicht verpflichtet gefühlt, ihm für seine Zuneigung etwas zurückgeben zu müssen, und waren darum gefügig. Vermutlich hatten sie niemanden, der ihnen einmal gesagt hätte, dass das, was beim Pastor lief, nicht normal war«, mutmaßte Johannes.
»Was ist aus den Zwillingen geworden?«, fragte Vanessa.
»Der eine ist obdachloser Alkoholiker, der andere seit Jahren in der Psychiatrie. Das spräche durchaus dafür, dass sie von Feldmann missbraucht worden sind.«
»Wir brauchen die Namen und Adressen, damit wir die beiden verhören können«, sagte Vanessa.
»Ich glaube nicht, dass das viel bringen wird. Nach dem, was man so hört, hat sich Dirk um den Verstand gesoffen, und Frank sitzt sicher nicht umsonst in der Psychiatrie, ich bin nicht sicher, wie weit er sich überhaupt erinnern kann oder will«, gab Johannes zu bedenken. »Du brauchst dir ansonsten nur anzusehen, wie weit die Jungs alle von Hellersberg weggezogen sind. Drei sind ausgewandert, nach Frankreich, Irland, Amerika. Es konnte gar nicht weit genug weg sein.«
»Es gibt nicht gerade viele Arbeitsplätze in Hellersberg, kann nicht das der Hauptgrund dafür sein, warum kaum jemand hiergeblieben ist?«
»Die meisten Eltern haben noch ein Grundstück für ihre Kinder, auf dem diese später ihr eigenes Häuschen bauen können. Fahr mal durch Hellersberg und sieh dir die Baulücken an. Dann frag nach, wem die Grundstücke gehören. Die meisten dürften für Söhne gedacht gewesen sein.« Johannes wandte sich an seinen Vater: »Wie lange war Pastor Feldmann in Hellersberg tätig?«
Hajo dachte einen Moment nach. »Deine Mutter und ich haben vor sechsunddreißig Jahren geheiratet. Damals war noch Pastor Eiden in der Gemeinde. Er dürfte vielleicht vier Jahre später von Josef abgelöst worden sein.«
»Wenn die Kinder mit neun Jahren als Kommunionkinder zum ersten Mal in die Fänge des Pastors gerieten und er vor drei Jahren in Rente gegangen ist, wie Pastor Lämmle mir erzählt hat, heißt das, dass alle männlichen Hellersberger zwischen zwölf und, wenn man die Firmlinge und Messdiener hinzurechnet, fast fünfzig Jahren ein potenzielles Mordmotiv hätten?«, rechnete Vanessa laut.
»Diese Männer und deren Angehörige, die vielleicht auf Rache sinnen«, bestätigte Johannes.
»Wenn der Pastor umgebracht worden wäre, könnte ich das nachvollziehen, aber warum sind lauter andere Menschen ermordet worden? Welches kranke Hirn ist hier tätig?«, fragte Hajo verzweifelt.
Vanessa stand auf und trat an die Terrassentür. Sie blickte in die dunkle Nacht hinaus und hoffte, eine Eingebung zu bekommen, wo die Zusammenhänge lagen. »Gehen wir einmal davon aus, die Morde haben mit dem Pastor zu tun.«
Hajo räusperte sich. »Erinnerst du dich, dass ich dir schon am Mittwoch gesagt habe, es gebe da einen religiösen Zusammenhang? Überleg mal, wie die Cacheowner heißen, die Namen sind alles irgendwie religiöse Begriffe.«
»Aber die Wahl der Opfer ergibt keinen Sinn!«, warf Vanessa ein. »Zilk war nicht von hier. Könnte sein, dass Winter kein Zufallsopfer war, sondern bewusst ausgewählt wurde, aber warum? Frau Ostermann schien mit dem Pastor zu sympathisieren, das könnte die Wut oder den Hass des Täters erregt haben, aber was ist mit Schuster? Könnte er bei seinem Alter überhaupt ein Opfer Feldmanns gewesen sein? Und schließlich der Metzger: Nach ersten Erkenntnissen hatte er keine Feinde, er scheint beliebt gewesen zu sein im Dorf. Seine Beziehung zu den Eltern war intakt bis
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