Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
abzuschütteln. Immer noch saß er rittlings auf ihrem Bauch, damit beschäftigt, den Schraubenzieher aus seinem Arsch zu ziehen.
Anouschkas Lider flatterten, sie wünschte sich, endlich in die Schwärze abdriften zu können, den Schmerzen entfliehen zu dürfen. Aber ein bisschen Wille war noch da, und als sie wieder sehen konnte, hob sie den Kopf etwas an und suchte nach einer weiteren Waffe, die sie erreichen konnte. Links von ihr lag die Sichel, in greifbarer Nähe, aber ihr verletzter Arm war mittlerweile so taub, dass sie ihn nicht mehr bewegen konnte.
Rechts neben ihrem Kopf stand eine Holzkiste mit mehreren Kerzen darauf, von denen einige noch brannten. Während
Murow sich mit zusammengebissenen Zähnen und geschlossenen Augen den Schraubenzieher aus dem Gesäßmuskel zog, griff Anou nach rechts, bekam eine Kerze zu fassen und löste sie mit einem Ruck von der Holzkiste. Ohne zu zielen stieß sie sie nach vorn. In dem Moment wandte Murow sich um – sie traf ihn im Gesicht und drückte die Flamme in sein rechtes Auge. Er brüllte, ruderte wild mit den Armen und stürzte nach hinten.
Anou strampelte, wand sich, bekam ihre Beine unter ihm hervor, spürte dabei aber heftige Stiche ihrer gebrochenen Rippen. Sie kippte zur Seite und blieb um Atem ringend liegen.
Keine Kraft mehr.
Sie hatte verloren.
Der Blutverlust, die Verletzungen … sie brauchte Zeit, doch die würde er ihr kaum geben. Vor ihren Augen geriet die Welt aus den Fugen, alles drehte sich, wurde abwechselnd schwarz und weiß.
Nele!
Hilf mir!
Während sie an ihre Liebe dachte, wartete sie auf den alles beendenden Hieb des Messers. Es konnte nicht mehr schlimmer werden, irgendwann konnten Schmerzen sich nicht mehr übertreffen. Schade nur, dass ihr Leben so früh und auf diese Art enden musste.
Warum tötet er mich nicht?
Anou schaffte es, sich ein wenig aufzurichten.
Durch einen blutig-nebligen Schleier sah sie Karel Murow am Boden hocken und sich das verletzte Auge halten. Scheinbar war etwas darin, das er nicht herausbekam.
Anouschka hatte keine Kraft mehr aufzustehen. Sie drückte sich mit den Beinen nach hinten, weiter in den
tiefen Schatten der Halle hinein, den die Kerzen nicht vertreiben konnten. Meter um Meter kroch sie in die Dunkelheit, während Murow wimmernd mit seinem Auge beschäftigt war.
»Ich bring dich um«, brüllte er plötzlich unter seinen immer noch vors Gesicht geschlagenen Händen hervor.
Für Anou klang diese Drohung wie Worte aus einer weit entfernten Welt, die ihr überhaupt nichts anhaben konnten. In dem Maße, wie es um sie herum dunkler wurde, wurde es auch in ihrem Inneren dunkel. Sie kämpfte dagegen an, versuchte verzweifelt, bei Bewusstsein zu bleiben, doch ihre Kraft schwand schnell.
Letztlich fand sie die schmerzerlösende Stille, die sich wie eine schwere Decke über sie senkte, sogar schön.
Nele Karminter wuchtete die Holzfalltür hoch, und sofort drang ein langgezogener Schrei aus dem dunklen Verlies herauf, so als habe er nur darauf gewartet zu entkommen.
Entsetzt fuhr sie zurück. Nele hatte mit vielem gerechnet, nicht aber mit einem solchen Schrei, gedämpft zwar und von weit entfernt kommend, aber doch angefüllt mit Schmerz, Angst und Verzweiflung.
Wer immer ihn ausgestoßen hatte, befand sich in Lebensgefahr!
Hendrik und sie starrten sich an.
»Großer Gott!«, flüsterte er. »Was war das?«
Nele war sich sicher. »Anou … wir müssen sofort da runter!«
Sie leuchtete in den Schacht.
Hendrik packte sie abermals bei der Schulter und zog sie kräftig zurück. »Wenn wir jetzt da runtergehen, finden die anderen uns nie. Das Risiko ist zu groß.«
»Dann warten Sie hier. Ich gehe jedenfalls.«
Hendrik sah sie an. »Einen Befehl würden Sie ignorieren, nicht wahr?«
Nele nickte.
»Das habe ich befürchtet.« Er seufzte tief. »Gut, also gut, aber wir bleiben dicht zusammen.«
»Sie kommen mit?«
»Was für eine Frage! Ich lasse Sie doch nicht allein da hinuntergehen.«
»Danke«, sagte Nele, wandte sich ab und leuchtete in den Schacht.
Vor ihr führte eine schmale Treppe drei Meter gerade in die Tiefe. Wände und Treppe bestanden aus nacktem, altem Beton, dem die vielen Jahre anzusehen waren. Mit der Waffe in der rechten und der Stablampe in der linken Hand betrat Nele die Treppe als Erste. Obwohl der Schrei sie zur Eile antrieb, wollte sie nicht allzu unvernünftig sein. Sie konnte Anou nur helfen, wenn sie unverletzt und am Leben blieb.
Am Ende der Treppe befand sich
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