Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
deutlich gewesen. Sie folgte einem Knick nach rechts, dann wieder links. Plötzlich stand sie an einer Kreuzung.
»Welche Richtung?«
»Die Taschenlampen aus«, raunte Hendrik.
Im Bruchteil einer Sekunde waren sie von perfekter Dunkelheit umgeben. Ihre Augen, noch geblendet vom Licht der Taschenlampen, waren nutzlos wie die von Blinden. Beide warteten, starrten, versuchten etwas zu erkennen.
War das ein goldenes Schimmern dort vorn?
Nele wies Hendrik darauf hin.
»Das ist Licht!«, sagte er.
Ohne die Taschenlampen wieder anzuknipsen, und deutlich langsamer und vorsichtiger als zuvor, bewegten sie sich auf die vermeintliche Lichtquelle zu. Der Gang schien immer länger zu werden, so als wolle er sie daran hindern, ihr Ziel zu erreichen.
War das ein klägliches Jammern, was sie da hörten?
In der Dunkelheit blickten die beiden sich an. Nur das Weiße ihrer Augen war zu sehen. Sie horchten angespannt. Irgendwo tropfte Wasser, leise, perlend, in der unterirdischen Stille aber doch zu hören. Daneben nur ihr stoßweiser Atem, das Klopfen ihrer Herzen und Rauschen des Blutes in den Ohren.
»Ich bring dich um!«
Der laute Schrei war wie der erste heftige Donnerschlag in der Ruhe vor dem Gewitter.
Nele stürmte los.
»Polizei, Waffe weg!«, brüllte sie, noch ehe sie ihren Gegner überhaupt sehen konnte.
Die Welt ihrer Kindheit war mit Steinen gefüllt. Mit dem Tod ihres geliebten Vaters, als sie gerade einmal sieben Jahre alt gewesen war, waren die ersten Steine aufgetaucht. Hier einer auf der Küchenanrichte, dort einer auf dem Regal, ein besonders schöner auf dem Fernseher. Zunächst waren es einfache Steine gewesen, besonders schöne Kiesel und auffällig geformte Feldsteine. Nach und nach hatten sich dann Edelsteine jeglicher Art dazugesellt, so dass ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters das Haus übervölkert war davon. Sie lagen in Staub geschützten, beleuchteten Glasvitrinen, all diese wunderbar glitzernden, funkelnden und geheimnisvoll aussehenden Edelsteine mit den seltsamen Namen, die sich die kleine Anouschka Rossberg nicht merken konnte. Was ihr hingegen immer im Gedächtnis haften geblieben war, war die Erklärung ihrer Mutter, mit der sie ihr den roten Jaspis um den Hals gelegt und das Lederband geschlossen hatte.
Der rote Jaspis gilt in der indischen Lehre als Mutter
aller Edelsteine. In ihm sind alle Kräfte vereinigt, denn so wie ein Kind niemals von der Mutter getrennt werden kann, kann der Jaspis nicht von seinen Kindern getrennt werden. Daran soll er dich immer erinnern.
Jetzt, auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, schien der Stein auf der nackten Haut ihres Brustbeins zu glühen. Der Stein war das Einzige, was Karel Murow ihr gelassen hatte, warum auch immer.
Anouschka befand sich im Inneren des Jaspis.
Ihre Welt war rot, dunstig, glasig, frei von Schmerz, Angst oder Panik. Alle Gedanken daran waren hinweggefegt, und sie fühlte sich sicher, wohlig, als wäre sie zurückgekehrt in den Schoß ihrer Mutter. Der Tod erschien ihr jetzt nicht mehr grausam, er hatte seinen Schrecken verloren und würde sogar willkommen sein, wenn es sich denn nicht vermeiden ließ.
All dies vermochte der Edelstein zu bewirken, andererseits aber schien er seine ihm innewohnende Kraft auch darauf zu verwenden, Anou am Leben zu erhalten. Sie wusste, dass sie noch nicht tot war, dass der Schritt hinüber zwar klein, aber doch nicht so leicht zu bewältigen war. Es war ein sehr merkwürdiges Gefühl. Die reale Welt war nach hinten getreten und hatte ihrem Inneren Platz gemacht. Darin, in der Welt des Steins, gab es einen Ort, an dem sie sich erholen konnte. Dort bekam sie nichts mit von der äußeren Umgebung.
So realisierte sie auch nicht, dass Karel Murow sie packte und vor der heraneilenden Hilfe in den finsteren Teil der Katakomben zog. Es gab eine Tür dort hinten, metallen und alt, aber funktionstüchtig.
Nachdem einige Zeit verstrichen war, vielleicht Sekunden, vielleicht Minuten, wollte Anous Bewusstsein die Führung
wieder übernehmen. Sie kämpfte sich durch den roten Nebel, den sie eigentlich gar nicht verlassen wollte, und erreichte schließlich die reale Welt, in der es finster und feucht war.
Eine metallene Klammer hatte ihr Handgelenk gepackt.
An ihrem verletzten Arm, den sie nicht mehr spürte, wurde sie über scharfkantigen, schmutzigen Boden durch die Dunkelheit gezogen. Irgendwo über ihr keuchte jemand schwer.
War das ihr eigener Körper, in dem sie steckte?
Anouschka war sich
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