Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
links ein Durchgang. Ein alter, rostender Metallrahmen bewies, dass es hier einmal eine Tür gegeben hatte. Dahinter erstreckte sich ein Gang, der Nele und Hendrik erstaunte. Er war lang genug, um das Licht der Taschenlampen zu verschlucken.
»Nicht zu fassen«, sagte Hendrik mit Ehrfurcht in der Stimme. »Sieht so aus, als wäre der gesamte Wald unterkellert.«
»Die Nazis waren gründlich in dem, was sie taten.«
Nele ging vor. Der Gang war zu schmal, um nebeneinander zu gehen, und das barg natürlich ein Risiko. Hendrik hatte weder Sicht- noch Schussfeld. Neles Herz klopfte wild. Sie spürte Schweißtropfen ihren Nacken hinunterlaufen.
Eine Art elektrische Spannung, die von innen kommen musste, ließ die feinen Härchen an ihren Armen sich aufrichten.
Das Gefühl, sich unter dem Erdboden zu befinden, in einem Tunnelsystem, das fünfzig Jahre alt und entsprechend marode war, war schon schlimm genug. Sie aber mussten zusätzlich noch damit rechnen, von einem Irren angegriffen zu werden, der sich hier unten wahrscheinlich sehr gut auskannte und auf eine verräterische Taschenlampe nicht angewiesen war.
Der Mann hatte alle Trümpfe auf seiner Seite. Ihnen blieb eventuell noch das Überraschungsmoment, aber auch dessen konnten sie sich nicht sicher sein, vielleicht wusste ihr Gegner längst, dass sie kamen. Nicht einmal Borrmanns gut ausgebildetes Team hätte hier mehr ausrichten können. Auch diese Profis hätten artig hintereinandergehen müssen und wären Angriffen von vorn schutzlos ausgeliefert gewesen. Vielleicht hatten die Männer die besseren Reflexe, vielleicht aber auch nicht.
Nele konzentrierte sich immer auf die nächsten zwei bis drei Meter, den Bereich eben, den die Taschenlampe erhellte.
Sie waren etwa zehn Meter weit gekommen, als ein weiterer Schrei durch den Tunnel jagte.
Abrupt blieben beide stehen.
»Das war doch eine andere Stimme«, raunte Hendrik Nele ins Ohr.
Die beiden standen dicht beieinander. Nele konnte seinen Atem im Nacken spüren. Sie nickte nur, hörte darauf das metallische Klicken, dass entstand, wenn eine Waffe entsichert wurde. Sie tat das Gleiche.
»Hörte sich weit entfernt an, aber in einem solchen
Tunnelsystem kann das auch täuschen«, meinte Hendrik. »Achten Sie auf Abzweigungen.«
Sie gingen weiter, schneller jetzt, getrieben von der Furcht zu spät zu kommen, die weitaus größer war als jene, angegriffen zu werden. Die Schreie waren ein Indiz dafür, dass irgendwo hier drinnen zwei Menschen miteinander kämpften. Darin lag ihre Chance. Mit etwas Glück konnten sie den Täter überraschen.
Der Gang verlief leicht abwärts. Die Wände drängten sich zusammen, so dass Hendriks Schultern am Beton schabten. Es wurde feucht. Wasser perlte aus Löchern, an vielen Stellen durchbrachen Wurzeln den Beton, auch dort drang Wasser ein. Sie erreichten eine Stelle, an der die Decke eingestürzt war. Eisenbewehrung ragte in den Tunnel wie Totenhände. Unten gab es eine schmale Lücke. Sie krochen hindurch.
Auf der anderen Seite machte der Gang einen scharfen Knick. Nele konnte nicht sehen, was sich dahinter befand. Sollte der Täter dort lauern, hatte er sie wegen der Taschenlampen natürlich längst entdeckt. Nele gab Hendrik ein Handzeichen, der nickte. Darauf ließ sie sich zu Boden sinken und robbte auf dem Bauch mit der Waffe im Anschlag um die Ecke. Gleichzeit leuchtete Hendrik in Augenhöhe in den Gang, ohne sich selbst zu zeigen.
Da war nichts.
Nur Leere.
Sie rannten weiter, bis Nele unvermittelt abbremste und Hendrik gegen sie lief.
Beinahe hätte sie den schwarzen Durchgang auf der linken Seite übersehen. Sie waren schon auf dessen Höhe und es wäre ihr Ende gewesen, hätte dort jemand gelauert. Hendrik, der dem Durchgang am nächsten war, leuchtete hinein
und schlüpfte dann schnell hindurch. Er ging in die Hocke, sicherte in jede Richtung.
»Nichts, nur ein leerer Raum«, sagte er.
»Von denen wird es hier viele geben. Wir müssen verdammt aufpa …«
Abermals ein Schrei, diesmal geradezu infernalisch und nicht als männlich oder weiblich auszumachen. Ein Schrei, der durch Haut und Knochen ging und beiden einen lebhaften Eindruck davon vermittelte, welche Schmerzen der Mensch, der ihn ausgestoßen hatte, gerade erleiden musste.
»Anou!«, sagte Nele und rannte los.
Nichts hielt sie jetzt noch. Sie schiss auf die vielen Durchgänge, von denen jeder einzelne einen Hinterhalt bedeuten konnte. Es kam auf jede Sekunde an, zumindest darin war der Schrei sehr
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