Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
merken schon, dass wir ihnen nicht folgen.«
Nele überlegte, ob sie die Taschenlampe wieder einschalten sollte. Die Grube vor Augen, in die der SEK-Mann gestürzt war, machte ihr die Entscheidung leicht. Den scharf umrissenen Lichtkegel auf den Boden gerichtet schlich sie weiter. Dabei war es ihr egal, ob Hendrik ihr folgen oder dem Team Bescheid geben würde. Sie konnte jetzt nicht zurück – und warten schon gar nicht.
Nach einigen Metern änderte sich der Untergrund abrupt. Wo eben noch weicher, moosiger Waldboden gewesen war, bedeckte jetzt eine brüchige Betonplatte die Erde. Sie war feucht und glatt und an den Rändern zerbrochen. An ihrer vorderen Kante fiel der Boden steil ab.
Nele blieb stehen, Hendrik schloss auf, gemeinsam leuchteten sie in den Abgrund. Ohne Lampen wären sie böse gestürzt. Dieses Gelände war wirklich ein Alptraum. Drei Meter tiefer verlief ein Graben, gebildet aus den Betonkanten ehemaliger Bunker. Der Grund des Grabens war übersät von kleineren und größeren Brocken. Nele hatte den Eindruck, dass sie sich auf dem Dach eines Bunkers befanden, der entweder eingestürzt oder eingesunken war.
Ohne ein Wort schalteten sie gleichzeitig die Lampen aus.
Bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sahen sie gar nichts. Dann setzte plötzlich das Fiepen wieder ein, leise, beinahe kläglich, und am Grund des Grabens leuchtete es kurz blau auf.
»Da!«, riefen beide gleichzeitig.
Hendrik ließ seine Taschenlampe aufflammen und visierte den Punkt an, an dem sie das blaue Leuchten gesehen hatten.
»Ich rühre mich nicht von der Stelle, sonst verlieren wir es wieder. Steig du runter.«
Nele registrierte zwar, dass ihr Vorgesetzter sie plötzlich duzte, hatte aber keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Sie steckte ihre Lampe in den Gürtel, ließ sich an der Betonkante herab und sprang. Sie kam schlecht auf und knickte schmerzhaft mit dem rechten Fuß um. Trotzdem kletterte sie sofort weiter zu der Stelle, an der der Lichtkegel von Hendriks Taschenlampe ruhte.
Sie sah Tims Handy sofort.
Und auch die braune Lache, die das Moos großflächig eingefärbt hatte.
Sie gab Hendrik ein Zeichen, dann nahm sie das Handy auf. Der Akku hatte sich mit dem letzten Piepen verabschiedet, war jetzt komplett entladen.
»Warum hast du nichts gesagt, du verfluchter Idiot«, flüsterte Nele dem Handy zu, so als könnte Tim sie dadurch hören.
Dag Hendrik, der sie inzwischen erreicht hatte, hockte sich neben sie und gab einen leisen Zischlaut von sich.
»Das ist Blut, viel Blut!«, sagte er.
Nele nickte nur. Was das bedeutete, wussten beide. Sie mussten es nicht aussprechen.
»Was nun?«, fragte Nele.
Anders als sie erwartet hatte, spornte der Fund des Handys sie nicht an. Sie spürte plötzlich eine gähnende Leere in sich. Die Hoffnung starb wirklich zuletzt, und man musste sie quasi zertrampeln. Das Blut, das Handy, all das sprach eine deutliche Sprache, und doch wollte Nele sich nicht damit abfinden, zu spät gekommen zu sein. Dieses Dilemma raubte ihr die Kraft.
Hendrik antwortete nicht. Er starrte nach vorn. Nele folgte seinem Blick und sah, was er sah: Eine Schleifspur aus Blut, plattgedrücktem Farn und von den Betonbrocken und
Platten abgescheuertem Moos. Eine im Licht der Taschenlampen deutliche Spur, der sie nur zu folgen brauchten.
»Ich hole das Team zurück«, sagte Hendrik und betätigte den Sendeknopf seines Funkgerätes.
Während er leise mit Borrmann sprach – Nele konnte hören, dass der SEK-Leiter mächtig sauer war -, kroch sie selbst auf allen vieren vorwärts. Das Blut wurde schnell weniger, trotzdem war die Spur noch gut genug zu sehen.
Warum war der Täter so nachlässig?
Bei der Entführung der anderen Frauen hatte er derart vorsichtig agiert, dass selbst die erfahrenen Spurentechniker des Dezernats nicht in der Lage gewesen waren, etwas zu finden. Und nun dieser Wegweiser. Warum? Fühlte er sich hier sicher? Oder war er in seinem geistigen Verfall bereits so weit vorangeschritten, dass ihm alles egal war?
Hendrik hielt sie an der Schulter fest.
»Keine Alleingänge«, raunte er.
Zusammen krochen sie um einen besonders großen Betonbrocken herum. Dahinter befand sich ein langer, aber nicht besonders tiefer Graben, der von rechts nach links verlief. Er endete, soweit sie das sehen konnten, vor den Resten eines weiteren Bunkers. Nele leuchtete dorthin. Dieser Bunker war längst nicht so gewaltig wie der andere, auch schien er zur Hälfte im
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