Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Innerstes. Die Ketten bewahrten sie aber auch davor zusammenzubrechen. Ihre Augen, vom Vorhang befreit, suchten hektisch ihren Entführer, doch er stand immer noch irgendwo im Schatten, unsichtbar, bedrohlich.
»Bitte …«, krächzte sie, »lassen Sie mich doch gehen. Ich verrate auch nichts.«
Schritte näherten sich ihr von der Seite. Und plötzlich stand er neben ihr. Nackt, wie sie selbst. Ein großer muskulöser Körper, der...
Nein, das konnte doch nicht sein!
Er hielt eine kleine Flasche und schüttete sich den Inhalt in die hohle rechte Hand. Sofort stieg Jasmin der Geruch von Babyöl in die Nase. Ihr Magen zog sich zusammen.
»Ich werde dich nun einölen«, sagte er sanft.
Schon spürte sie seine Hand auf dem Rücken. Das kalte Öl lief an ihrer Wirbelsäule hinab. Jasmin zuckte zusammen und schrie auf. Sie wand sich in den Ketten, stieß ihn mit ihrem Körper zurück. Sie wollte nicht berührt werden von ihm, alles in ihr sträubte sich dagegen. Die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf.
Der Mann verharrte. Sein Blick verdüsterte sich, so als würden seine Augen die Dunkelheit der Höhle aufsaugen.
»Wenn du nicht still hältst, wirst du hier unten sterben.« Seine Stimme klang ungewöhnlich hoch und fistelig und hatte für Jasmin einen unmenschlichen Klang. Sie stellte sich vor, dass der Teufel selbst so sprechen würde. Gepaart mit seinem intensiven Blick aus großer Nähe brach er ihre Gegenwehr.
Er kippte das Öl auf ihre Schultern. Überall lief es an ihrem Körper hinab, der Geruch betäubte sie beinahe, aber nicht genug, um die Hände ignorieren zu können, die plötzlich überall waren. Sie strichen, streichelten, massierten und kneteten. Am Hals, an den Armen, die Brüste, den Bauch – und schließlich auch die Beine. Jedoch verweilten sie auch zwischen ihren Schenkeln nicht länger als an jeder anderen Stelle des Körpers.
Jasmin ertrug es. Sie wehrte sich nicht mehr.
Nach einigen Minuten war er fertig.
Die öligen Hände von sich gestreckt, trat er ein paar Schritte zurück und betrachtete sie eingehend.
»Stell dich aufrecht und straffe deine Schultern«, verlangte er.
Jasmin tat es, so gut sie konnte. Was er sah, schien ihm zu gefallen. In seinem Gesicht regte sich nichts, doch es waren wiederum seine Augen, die seine Gefühle verrieten. Sie wurden heller, größer, das Kerzenlicht spiegelte sich in ihnen. »Bitte …«, jammerte Jasmin, »ich habe solchen Durst.«
»Bald. Erst musst du mir eine Frage beantworten. Von deiner Antwort hängt alles Weitere ab. Also überlege sie dir gut.«
Er streckte seinen Körper, so als wolle er sich ihr so gut wie möglich präsentieren. Auch seine Haut glänzte von dem Öl.
»Findest du mich schön?«
Die Frage war so abstrus, dass Jasmin sie nicht einmal wahrnahm.
»Ich … bitte, ich habe solche Angst!« Sie wimmerte.
»Das ist deine Antwort? Ist das wirklich deine Antwort?«
»Lassen Sie mich gehen, bitte, ich habe solche Angst.« Plötzlich waren doch wieder Tränen da. Sie schossen geradezu aus ihren Augen, verschleierten ihren Blick. Nur ungenau sah sie, wie der Mann im Schatten verschwand, plötzlich wieder auftauchte und sie mit seinem nackten Körper bis an die Wand zurückdrängte. Eiskalt spürte sie den Beton im Rücken.
Er setzte etwas Spitzes unterhalb ihrer linken Brust auf ihre Haut. Eine sanfte, kitzelnde Berührung. Jasmin erstarrte und sah hinab. Es war ein Messer. Sie schloss die Augen, biss die Zähne zusammen und wimmerte.
»Sieh mich an.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sieh mich an!« Er schrie.
Jasmin öffnete die Augen. Sein Gesicht war verzerrt vor Wut. Was hatte sie nur falsch gemacht?
»Ich will in deine Augen sehen.«
Mit diesen Worten lehnte er sich gegen das Messer. Jasmins Körper versteifte sich. Sie riss die Augen auf, starrte ihn an, und noch im Sterben konnte sie nicht fassen, was mit ihr geschah.
Als Nele Karminter und Tim Siebert das Haus der Dreyers verließen, klingelte Sieberts Handy. Während er das Gespräch entgegennahm, ging Nele zum Ende der Hofeinfahrt und sah sich um. Mariensee war der Prototyp eines kleinen, verschlafenen Ortes. Um eine ringförmig angelegte Straße versammelten sich die wenigen, gepflegten Häuser und alten Höfe. Im Inneren des Ringes befanden sich große Koppeln, auf denen einige Pferde – Hannoveraner, soweit Nele es beurteilen konnte – grasten. Mehr als hundertfünfzig Einwohner hatte der Ort auf keinen Fall. Ein perfektes Idyll mitten
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