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Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde

Titel: Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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ihres Mantels.«
    Nele nahm das Blatt entgegen. Es war feucht und zerknittert. Sie faltete es auseinander und begann zu lesen.
    Mutter,
    komm nicht zurück in mein Leben! Ich habe all das hinter mir gelassen, weit zurück. Ich bin jetzt ein anderer Mensch, du würdest mich nicht mehr erkennen. Ich brauche dich nicht mehr! Dein Verrat hat alles verändert,
aber er hat mich auch stärker werden lassen. Du hattest unrecht damals. Ich bin nicht wie er. Ich bin stärker, und ich habe meinen Weg gefunden.
    Kreuze ihn nicht.
    Du würdest es nicht überleben.
    Karel
    Nele schüttelte den Kopf.
    »Also haben Sie sich doch geschrieben. Warum hat sie uns den Brief nicht gezeigt? Das ist eine Drohung, und so wie die Dinge liegen, hätten wir Schutz für sie organisiert.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Sie hätte ihn uns nur zeigen müssen.«
    »Hätte sie, ja, aber wir hätten auch so ihre Haftentlassung im Hinterkopf behalten müssen«, sagte Hendrik.
    »Nicht wir: ich. Ich hätte daran denken müssen. Dafür übernehme ich die Verantwortung.«
    Hendrik sah sie an, wollte etwas erwidern, da läutete sein Handy. Er presste es an sein Ohr und nahm das Gespräch entgegen. Im selben Atemzug zerfloss sein Gesicht zu einer Grimasse puren Entsetzens.
    Neles Herz setzte einen Schlag aus.
    »Sie ist verschwunden … Frau Rossberg ist aus der Wohnung verschwunden!«
    »Nein!«, entfuhr es Nele keuchend, und sie sackte gegen Hendrik. »Nicht noch einmal.«
    Hendrik packte sie hart bei den Schultern. »Murow war definitiv nicht dort. Sie ist abgehauen. Zum Teufel noch mal, macht denn hier jeder, was er will?!«
     
    All ihre Sinne waren aufs Äußerste gespannt, waren kurz vor dem Zerreißen, Schweiß lief nun in Strömen an ihrem
Rücken hinab. Die entsetzliche Angst schien ihre Muskeln mit einem lähmenden Gift zu durchziehen. Sie hörte und spürte ein leises Schnüffeln. Jemand, der größer war als sie, roch an ihrem Haar. Ruckartig drehte Anou sich um.
    Hinter ihr stand eine große, kräftige, brünette Frau.
    Ihre Augen!
    Seine Augen! Die Brandwunde darunter.
    Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Er senkte kurz die Lider mit den langen dunklen Wimpern, als er nochmals an ihrem Haar roch. Sie standen so dicht beieinander wie ein Liebespaar, die anderen Fahrgäste drängten sie zusammen, Anou kam nicht weg. Er würde sie hier erstechen, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte.
    Panik überkam sie!
    Anou drängte nach hinten, weg von ihm, fort aus seiner Reichweite. Die anderen beklagten sich, stießen zurück, doch Anou ließ sich nicht aufhalten. Karel Murow blieb zunächst stehen und sah ihr durch den Korridor, den sie schuf, lächelnd nach. Dann schloss sich der Korridor aus menschlichen Leibern und trennte sie voneinander. Anou erreichte das Ende des Waggons. Was sollte sie tun? Sie hatte diesen gefährlichen Mörder in einen Zug voller Menschen gelockt. Wie weit war es noch bis zum nächsten Halt? Anou wusste es nicht. Aber selbst fünf Minuten würden zu lange sein.
    Ihr Blick fiel auf den roten Griff oben neben dem Fenster.
    Die Notbremse!
    Ohne weiter nachzudenken reckte sie sich hoch und zog kräftig daran.
    Augenblicklich begann der Zug zu bremsen. Jämmerlich quietschte Metall auf Metall. Die Menschen schrien auf, stolperten, Stimmen wurden laut, jemand stieß sie weg.

    Anou stolperte auf die Tür zu.
    Der Zug stoppte auf freier Strecke.
    Anouschka betätigte den Handgriff, öffnete die Waggontür und sprang aufs Gleisbett hinunter. Sie kam mit dem rechten Fuß unglücklich auf der Kante einer Holzbohle auf und knickte um. Heftiger Schmerz schoss von ihrem Fußgelenk ins Bein hinauf. Auch in ihrem Brustkorb machten sich sofort wieder die gebrochenen Rippen bemerkbar.
    Sie stolperte vorwärts, stürzte aufs Schotterbett und schürfte sich die Hände auf. Plötzlich bekam sie kaum noch Luft und meinte, Blut in ihrem Mund zu schmecken.
    Ihre Lunge! Die Verletzung an ihrer Lunge war wieder aufgebrochen!
    Schnell rappelte sie sich auf und stolperte zwischen den Gleissträngen der zweiten Spur neben dem stehenden Zug in Richtung der Lok. Erst als sie ein paar Meter geschafft hatte, wagte sie es, sich umzudrehen.
    Karel Murow war ebenfalls aus dem Zug gesprungen.
    Er hatte sich die Perücke vom Kopf gerissen und kam mit langen Schritten auf sie zu. Seine rechte Hand steckte in der Tasche des Damenmantels, und sie wusste genau, was darin versteckt war. Aus den großen Waggonfenstern starrten die Menschen auf sie hinab.

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