Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
sie mit einer schnellen Handbewegung, bevor sie noch ein zweites Wort herausbrachte. »Ich weiß, ich weiß, du bist offiziell dagegen. Wäre ich an deiner Stelle auch«, er machte eine kurze Pause und sah sie
von unten herauf an. »Andererseits …«, er kam nach vorn, stützte die Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab und sprach leise weiter, »ist es aber genau das, was mir seit Tagen durch den Kopf geht. Deine Mitarbeiterin ist clever, und Mut hat sie scheinbar auch, alle Achtung …«
»Hör auf, ich will das nicht hören!«
»Doch, willst du, und du weißt es auch. Ich hätte diesen Vorschlag früher oder später sowieso gebracht. Es ist allein ihre Entscheidung, niemand zwingt sie. Und dass sie von selbst darauf gekommen ist, macht es mir umso einfacher.«
»Ich finde nicht, dass sie es allein entscheiden sollte. Sie steht noch unter dem Einfluss der Ereignisse. Sie kann es gar nicht allein entscheiden.«
Hendrik lehnte sich zurück und fixierte Nele. »Würdest du auch so reagieren, wenn du nicht mit ihr schlafen würdest?«
Nele erstarrte, ihr Blick wurde eisig. »Diese Frage steht dir nicht zu.«
»Vielleicht nicht. Aber ich will trotzdem, dass du drüber nachdenkst und ein objektives Urteil fällst. Nicht eines, das von Emotionen getrübt ist.«
Nele lag eine Erwiderung auf der Zunge. Sie schluckte sie jedoch herunter, stand hastig auf und ging zum Fenster. Sympathie, persönliche Zuneigung, alles schön und gut, doch in diesem Moment entschied sich Neles berufliche Zukunft, das wusste sie. Hendrik war ein Mann, er konnte sich nicht in sie hineinversetzen, und bei künftigen Karriereentscheidungen würde er sie immer nach diesem einen Augenblick beurteilen, ob er wollte oder nicht.
Was also blieb ihr übrig?
Sie hatte ihr Versteck verlassen!
Wie töricht von ihr.
Jetzt lief sie ohne jeden Schutz durch die Straßen der Stadt. Scheinbar ziellos suchte sie in der Fußgängerzone verschiedene Geschäfte auf, kaufte auch ein paar Kleinigkeiten, schien es aber ansonsten nur zu genießen, sich im Freien aufzuhalten. Sie saß im Café, fuhr mit der Straßenbahn und tat alles, was andere auch taten. Dabei wirkte sie erstaunlich unbekümmert! Hatte sie keine Bewacher?
Offensichtlich nicht. Und wenn, dann konnte er sie nicht sehen. Sie ihn allerdings auch nicht, hielten sie doch Ausschau nach einem völlig anderen Menschen. Sie suchten einen Mann, er war eine Frau, sie suchten nach blondem Haar, er war nun brünett. Nein, sie war allein, musste es sein, denn einmal war er ihr bereits so nahe gekommen, dass er sie hatte riechen können. Das war in einer Menschenansammlung am Bahnhof gewesen. Wie leicht hätte er ihr sein Messer in den Rücken stechen können, doch das war es nicht, was er wollte.
Er wusste, dass er schnell sein musste, dass er nur eine Chance bekäme, trotzdem wollte er ihr noch einmal in die Augen sehen. Ein letztes Mal noch. Sie sollte ihn ansehen, ihn trotz seines veränderten Äußeren erkennen und verstehen, warum sie sterben musste.
Die Vorfreude darauf linderte seine Schmerzen etwas, während er mit tief in den Taschen des Mantels vergrabenen Händen durch die Straßen ging. Noch immer spürte er bei jedem Schritt die Stichverletzung in seinem Hintern. Er hatte die Wunde selbst versorgt und genäht. Sie verheilte ganz gut, trotzdem zog er das betreffende Bein etwas nach, hoffte aber, dass es nicht weiter auffiel. Auch nicht der Umstand, dass er bei diesem beschissenen Wetter eine Sonnenbrille
trug. Sie musste die hässliche Brandwunde unter seinem rechten Auge verdecken. Schließlich war das ein Merkmal, nach dem sie Ausschau halten würden.
Zu seinem Glück ging sie betont langsam durch die Stra ßen, schlenderte gar, so als habe sie alle Zeit der Welt. Er musste sich nicht eilen, konnte auf seine Verletzung Rücksicht nehmen. Auch musste er sie nicht immer im Blickfeld haben, so dass es wirkte, als liefe er aufs Geratewohl durch die Stadt.
Wie ein Hund folgte er ihrer Spur.
Noch immer roch ihr Körper nach dem Babyöl!
Zwei Tage lang war Anouschka Rossberg bereits durch die Straßen der Stadt gelaufen. Sie kannte die Auslage sämtlicher Geschäfte in der Einkaufszone, hatte sich Tand gekauft, den sie eigentlich nicht brauchte, hatte zu viel Cappuccino in ihrem Lieblingscafé getrunken und sich zwischendurch immer wieder die Füße plattgelaufen. Dabei schmerzten ihre langsam heilenden Rippen und die Verletzungen an Lunge und Zwerchfell. Ihr Oberarm pochte im Gleichtakt mit
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