Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
dem Herzen. Sie ging wie eine alte Frau, langsam, mitunter schleppend, und musste sich öfter ausruhen als eine Rentnerin. Es war eine Qual, trotzdem hielt sie eisern durch.
Murow war noch nicht aufgetaucht!
Am ersten Tag hatte sie alle paar Minuten hinter sich geblickt oder den Spiegeleffekt der Schaufensterscheiben genutzt. Sie hatte ihn in ihrem Rücken, seine Blicke auf ihrer Haut brennen gespürt – doch gesehen hatten weder sie noch einer der Jungs aus Borrmanns Team Karel Murow.
Er war scheinbar nicht da.
Oder doch?
Anouschka wurde das Gefühl nicht los, dass er sie beobachtete. So wie ein Jäger sein Opfer, wie ein Löwe das arglose Gnu, leise, lauernd, getarnt und mit der Umwelt verschwimmend. Er war irgendwo da draußen, unter den Menschen, hatte sein Aussehen verändert und wartete nun auf den richtigen Moment. Vielleicht kostete er es aber auch aus, sie zu quälen, im Ungewissen zu lassen. Vielleicht machte es ihm Spaß, sie zu betrachten, denn Situationen, in denen er hätte zuschlagen können, hatte es gegeben.
Hatte er ihre Bewacher bemerkt?
Nein, das konnte nicht sein. So wie sie es mit Hendrik abgesprochen hatten, waren es nur zwei. Die besten. Sie operierten einzeln, waren untereinander nur mit winzigen Funkgeräten, die als hautfarbene Knöpfe in ihren Ohren verschwanden, in Kontakt und kamen ihr niemals so nah, dass sie in Verbindung gebracht werden konnten. Das war sehr gefährlich, aber genauso hatte Anou es gewollt.
Warum holte er sie nicht?
Das Warten zermürbte sie.
Wie lange konnte sie diesen Zustand noch ertragen?
Anouschka beugte sich vor und nahm die große Tasse vom Tisch. Sie saß schon wieder im Café, hatte sich diesmal eine heiße Schokolade bestellt, weil sie nicht so viel Koffein zu sich nehmen wollte. Sie war schon nervös und aufgedreht genug, fühlte sich wie eine Batterie, die ständig geladen wurde und kurz vor dem Bersten stand. Sie trank den Rest aus der Tasse in einem Zug. Beim Absetzen fiel ihr Blick auf die langhaarige Brünette, die in der schummrigen Ecke saß und scheinbar in eine Illustrierte vertieft war. Ganz kurz und flüchtig traf sich ihr Blick, unbemerkbar für Außenstehende.
Anouschka stand auf, griff ihren Regenschirm und verließ
das Café. Bezahlt hatte sie schon, als die Kellnerin sie bedient hatte.
Der Regen hatte nachgelassen. Nur noch vereinzelte Tropfen fielen in die großen Pfützen auf Gehsteig und Stra ße, die der Platzregen von vorhin hinterlassen hatte. Das Wetter der letzten Tage war eine Katastrophe und behinderte sie zusätzlich. Dadurch, dass es so oft regnete, musste sie dauernd in Geschäfte, Restaurants oder Cafés einkehren. Es würde zu sehr auffallen, wenn sie es nicht täte, denn kein Mensch ging bei einem solchen Wetter freiwillig spazieren.
Anou ließ den Regenschirm geschlossen und marschierte den Gehsteig in Richtung Bahnhof. Schon die ganze Zeit hatte sie die Vorahnung, dass Murow sie in der Nähe des Bahnhofes am ehesten finden würde.
Hinter sich hörte sie die Tür des kleinen Cafés erneut zuschlagen.
Auch die Brünette war jetzt auf der Straße.
Der Zeitpunkt war gekommen.
Er konnte nicht mehr länger warten.
Es musste heute sein!
Seit dem frühen Morgen folgte er ihr bereits. Sie tat, was sie die anderen beiden Tage auch getan hatte, nichts hatte sich geändert, ihm waren keine Personen aufgefallen, die nach Polizei aussahen, nur sie selbst schien ein wenig nervöser zu sein, blickte häufiger über ihre Schulter zurück. Sie trug wieder die übliche Bluejeans und die billige, aber scheinbar warme, dicke Jacke, die ihre Figur verhüllte.
Während er ihr durch die Stadt folgte, gingen ihm erneut Fragen durch den Kopf, die er sich in den letzten Tagen öfter gestellt hatte. Warum war sie in die Wohnung zurückgekehrt?
Sie musste doch wissen, dass er sie über diesen Bezugspunkt finden würde. Wollte sie vielleicht sogar, dass er sie fand? War ihre Beziehung durch das gemeinsam Erlebte derart tief, dass sie ohne ihn nicht sein konnte und sogar den Tod durch seine Hand suchte? Er war bereit, daran zu glauben. Dieser Glaube schenkte ihm Kraft und Selbstvertrauen. Sie würde damit der einzige Mensch sein, zu dem er je einen innigen dauerhaften Kontakt aufgebaut hatte, etwas, das der Liebe sehr nahe kam. Es war nur folgerichtig und konsequent, wenn sie durch seine Hand starb.
Am frühen Nachmittag ging sie in den Park.
Er folgte ihr in großem Abstand. Zu dieser Jahreszeit und bei dem schlechten Wetter
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