Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
in eine Situation gebracht, in der es nur auf sie ankam. Ein Showdown wie in einem guten alten Western, nur er und sie, keine Hilfe, keine Hoffnung.
Wie hatte sie nur so dumm sein können!
Jetzt war es zu spät zu bereuen.
Sie hatte ihn nicht gesehen, aber das war auch nicht nötig. Bevor sie in den Zug gestiegen war, war er ganz nah gewesen, so nah, dass sie sogar gemeint hatte, das verfluchte Babyöl zu riechen, und es hatte sie enorm viel Kraft gekostet, sich nicht umzudrehen. Diese Blöße hatte sie sich nicht geben wollen. Er sollte nicht sehen, wie groß ihre Angst vor ihm war.
Anou stand im Gang, eingepfercht zwischen vielen anderen Menschen, die zur Feierabendzeit die Heimfahrt aus der Stadt in ihre Wohnorte antraten. Sitzplätze waren keine mehr frei, aber sie hätte sich ohnehin nicht still auf einen Platz setzen können. Der Zug ruckelte über die Gleise, ihre Knie zitterten, und sie war froh, sich an der Stange über ihrem Kopf festhalten zu können.
Sie hatte keinen Plan. All ihr Denken war auf einen Moment ausgerichtet, den wahrscheinlich nicht sie, sondern er bestimmen würde. Hier im Zug, ein Ort, an dem er sich auskannte, der ihm nicht fremd war, würde es nicht passieren. Zu viele Menschen, zu wenig Platz, kein Raum für die Art von Intimität, die seine Tat erfordern würde. An irgendeiner Station würde sie aussteigen müssen, irgendwo auf dem Lande. Anouschka hatte den Zug nicht willkürlich gewählt. Eine der Stationen, an denen er haltmachte, war Friedburg.
Genau dort würde sie den Zug verlassen.
Oder gab es eine besser Alternative?
Etwas mit Überraschungsmoment, eine Situation, die ihn in eine Zwangslage bringen würde.
Was konnte sie tun?
Bei all der Kaltschnäuzigkeit und Waghalsigkeit, die Anouschka mit dieser Aktion an den Tag legte, war sie weit davon entfernt, heute sterben zu wollen. Sie wollte leben,
mit Nele zusammen leben und lieben, aber das war nur möglich, wenn Karel Murow vom Angesicht der Welt getilgt war. Darauf war ihr Plan von Anfang an ausgerichtet gewesen, auf diesen einen Moment, an dem sie beide allein aufeinandertreffen würden. Anou hatte nicht geglaubt, dass ihre Aktion mit Köder und kleinem versteckten Überwachungsteam etwas bringen würde. Jedenfalls nicht das, was sich Nele und Hendrik vorgestellt hatten. Während der ganzen Zeit hatte sie nur darauf gewartet, der Überwachung zu entkommen.
Jetzt war alles so schnell und überraschend passiert, jetzt war sie allein und hatte das Monster im Nacken und machte sich vor Angst fast in die Hose.
Ihr Atem ging heftig, Schweiß lief ihr die Wirbelsäule hinab. Er kam näher, sie konnte es spüren. Wollte er es doch hier im Zug zu Ende bringen?
Der Zug bremste ab und rollte in den nächsten kleinen Bahnhof ein. Die Menschen gerieten in Bewegung, einige stiegen aus, andere ein. Anouschka blieb im selben Waggon, wurde aber in Richtung Tür gedrängt. Als der Zug wieder anfuhr, spürte sie plötzlich eine Veränderung.
Eine Hitzewelle schoss durch ihren Körper, ließ ihre Kopfhaut prickeln und ihr Herz rasen.
Er war da!
Direkt hinter ihr!
Der Anblick war entsetzlich!
Die kleine, pummelige Leiche Magdalene Murows lag mit dem Gesicht nach oben in dem brackigen Wasser des über den Winter abgestellten Springbrunnens. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Klaffend prangte die tiefe Wunde in ihrem Hals. Am helllichten Tage erstach er seine eigene
Mutter und warf sie in den Brunnen, nachdem sie zwölf Jahre für ihn im Gefängnis gesessen hatte.
Was war Karel Murow nur für ein Geschöpf?
Warum existierte er?
Nele wandte sich ab.
Um sie herum hatte der Trubel der Ermittlung erneut eingesetzt. Auch wenn sie in diesem Fall den Täter kannten, war es unerlässlich, sämtliche Spuren aufzunehmen. Die Techniker in den weißen Plastikanzügen warteten nur auf das Zeichen, endlich anfangen zu dürfen. Sie trampelten auf der Stelle und rieben sich die Hände. Genauso wie der Gerichtsmediziner.
»Können wir sie jetzt rausholen?«, fragte Patrick Kenzel Nele.
Sie nickte. Daraufhin machten sich zwei Beamte in schwarzen Wathosen und Gummistiefeln daran, den Leichnam aus dem kalten, blutigen Wasser zu holen.
Hendrik trat neben Nele. Seine Hände steckten tief in den Taschen des langen Wollmantels, um den Hals trug er einen dicken Schal. Noch immer quälte ihn die Erkältung. Er zog eine Hand aus der Tasche und hielt Nele ein gefaltetes Stück Papier hin.
»Den haben wir bei ihren Papieren gefunden, in der Tasche
Weitere Kostenlose Bücher