Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
»Ich bin in einer Viertelstunde da.«
Dann steckte sie das Handy weg.
Ihr Gesicht war plötzlich weiß, ihre Hände zitterten leicht. »Verdammte Scheiße … jetzt weiß ich, was ich übersehen habe.«
Anouschka verstand nicht. »Was ist los?«
Für einen kurzen Moment schien Nele durch sie hindurchzustarren, den Blick auf einen Punkt gerichtet, den Anou nicht sehen konnte. Sie beendete diesen Zustand mit heftigem Blinzeln, und es schien, als kehre sie von weither zu Anou zurück.
»Ein Jogger hat im Park eine Leiche gefunden. Sie liegt im Springbrunnen, offensichtlich ermordet … und das Opfer ist uns bekannt.«
»Was? Ich verstehe nicht … wer?«
Nele holte tief Luft, bevor sie antwortete. »Es ist Karel Murows Mutter.«
»Aber … die ist doch …«
Nele schüttelte den Kopf. »Nein, ist sie nicht. Ich habe es einfach übersehen, in der ganzen Aufregung habe ich nicht mehr an sie gedacht. Sie wurde vor einer Woche entlassen. Ich hab das gewusst … verstehst du? Der Leiter der JVA
hat es mir gesagt. Die Frau hätte Polizeischutz gebraucht, sie wäre der richtige Köder gewesen … so ein Mist …«
Nele fasste sich in einer verzweifelt anmutenden Geste an den Kopf und ließ sich kraftlos gegen die Wand sacken.
»So ein verdammter Mist.«
Anouschka wollte sie trösten, doch Nele hob abwehrend die Hände.
»Nein, lass, bitte, damit muss ich klarkommen. Ich muss sofort da hin.«
Mit einer schwerfälligen Bewegung nahm sie den Schlüssel vom Haken, wo sie ihn in Erwartung eines kuscheligen Abends bereits hingehängt hatte.
»Du bleibst hier in der Wohnung und setzt keinen Fuß vor die Tür. Verstanden?«
Anouschka nickte nur.
Sie brachte es nicht fertig, in diesem Moment ihre Freundin auch noch anzulügen, zumindest nicht mit Worten.
Aus dem Fenster beobachtete Anouschka, wie Nele aus der Tiefgarage kam und mit hoher Geschwindigkeit die Straße hinunterfuhr.
Sie durfte keine Zeit verlieren. Nele würde vom Wagen aus ein Team des SEK zu ihrer Wohnung beordern, damit sie nicht unbewacht blieb. Genau jetzt war der Zeitpunkt gekommen, auf den sie seit drei Tagen wartete. Nein, das war nicht ganz richtig. Eigentlich wartete sie schon darauf, seitdem sie im Krankenhaus aus dem künstlichen Koma erwacht war und ihren schmerzenden Körper gespürt hatte.
Anouschka Rossberg zog ihre gefütterten Stiefel an und schlüpfte in den warmen, modischen Parka mit Kapuze, in dem noch ein Rest Wärme steckte – sie hatte ihn erst vor zehn Minuten ausgezogen. Bevor sie die Wohnung verließ,
überprüfte sie ihre Waffe. Sie steckte geladen im Achselfutteral, ein Ersatzmagazin war auch dabei.
Aus ihrer eigenen Wohnung hätte sie sich nicht wegschleichen können. Dort gab es nur einen Ausgang und der wurde rund um die Uhr vom SEK-Team bewacht. Hier war es leichter. Obwohl das Team sicher noch nicht eingetroffen war, verließ Anou das Haus nicht durch die Eingangstür, sondern durch die Tiefgarage. Das schwere, metallene Rolltor ließ sich nur mittels einer Codekarte öffnen, oder indem man den Zahlencode direkt in das Tastenfeld eingab. Da sie die vierstellige Zahlenfolge kannte, war das für sie kein Problem.
Nachdem sich das Tor hinter ihr wieder geschlossen hatte, schlich sie die Rampe hinauf und spähte zunächst über deren Rand hinweg zur Straße. Niemand zu sehen. Anouschka verschwand durch den rückwärtigen Bereich, kroch unter ein paar Büschen hindurch und kam so schnell in die Parallelstraße. Von dort war es nicht weit zum Bahnhof. Am Bahnhof, das stand für Anou fest, würde er sie finden. Sie hatte Nele bisher nichts davon gesagt, aber bereits zweimal hatte sie genau dort das Gefühl gehabt, von ihm beobachtet zu werden. Gesehen hatte sie ihn nicht, aber trotzdem...
Anou beschleunigte ihren Schritt und hoffte, dass Nele vergaß, das SEK-Team zu ihrer eigenen Wohnung zu beordern. Ein bisschen Vorsprung konnte nicht schaden.
Vergessen hatte Nele es nicht, doch verspätet daran gedacht, so dass Max Griebert und Olaf Jantowski den Befehl erst mit halbstündiger Verspätung bekamen. Dafür aber mit dem Zusatz, oben zu klingeln und sich persönlich davon zu überzeugen, dass Frau Rossberg in Ordnung war.
Vor dem Wohnblock stiegen sie aus ihrem Wagen, sahen sich kurz um und gingen dann auf die Eingangstür zu. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, aber hellwach, unter ihren gefütterten Jacken steckten geladene Waffen, in den Ohren trugen sie kleine Knöpfe. Natürlich wussten sie, was im Park
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