Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
im Wald. Romantisch, viel Platz, viel Grün und eine bemerkenswerte Ruhe.
Allerdings bekam dieses Idyll jetzt störende Risse.
»Ja, sie ist schon da«, hörte Nele ihren Kollegen sagen, der sich ihr von hinten näherte. »Bleib dort, wir kommen vorbei.«
Siebert beendete das Gespräch.
»Das war Eckert. Er ist in der Nachbarschaft unterwegs und meint, auf etwas Interessantes gestoßen zu sein.«
»Gut, fahren wir hin.«
Sie setzten sich ins Auto und rollten vom Hof. Keine zweihundert Meter waren sie gefahren, als Eckert schon winkend am Straßenrand stand.
»Wäre ein schöner Spaziergang gewesen«, meinte Siebert, bevor sie ausstiegen.
Eckert Glanz kam ihnen entgegen. Ein gedrungener
Mann Mitte vierzig mit beginnender Glatze, Bauchansatz und schlecht sitzender Kleidung. Nele hatte sich, als sie vor vier Jahren die leitende Position in ihrer Abteilung übernommen hatte, in Glanz getäuscht. Anfangs hatte sie ihn für unbeweglich – in geistiger wie in körperlicher Hinsicht – gehalten. Körperlich traf das auch zu, aber dafür besaß er einen messerscharfen Verstand und scheute keine noch so unliebsame Arbeit. Er war der Typ fleißiger und korrekter Ermittler, den sie mit nahezu allen Aufgaben betrauen konnte. Leider hatte er keinen Instinkt. Fakten bestimmten sein Leben. Was schwarz auf weiß irgendwo geschrieben stand, machte ihn glücklich. Was nicht zu beweisen war, interessierte ihn kaum. Überraschungen gab es bei ihm nicht, dafür aber auch kaum Fehler oder eigenmächtige Übertritte, wie Tim Siebert sie gern praktizierte. Ihre beiden engsten Mitarbeiter waren wie Feuer und Wasser, trotzdem arbeiteten sie gut zusammen und waren für Nele ein nahezu perfektes Team. Sie wusste nur noch nicht genau, wo und wie sie Anouschka integrieren sollte. Wahrscheinlich würde die Zeit ihr dabei helfen.
Sie begrüßten sich per Handschlag. Noch am Wagen stehend klärte Glanz sie auf.
»Hier wohnt Familie Meyer. Frau Meyer und die 19-jährige Tochter Melanie sind zu Haus. Melanie ist ihrem Ausbildungsplatz ferngeblieben, weil sie sich nicht mehr traut, über den Bahnübergang zu fahren. Ihre Gründe dafür hören sich für meine Begriffe interessant an.«
Sie betraten das Haus. Im Flur war es dunkel, und es roch nach Hund. Glanz führte sie ins Wohnzimmer. Ein Panoramafenster bot freien Blick auf eine großzügige, mit Naturstein gepflasterte Terrasse und einen großen Garten, der auch so früh im Jahr schon perfekt wirkte. Auf der ledernen
Couchgarnitur saß eine etwa 50-jährige, korpulente Frau mit Locken und hielt den Arm um ein Mädchen, dass sich scheinbar in der Couch verkriechen wollte. Sie hatte die Beine untergeschlagen, die Schultern zusammengezogen und hielt den Rücken gekrümmt.
Nele stellte sich vor und setzte sich dem Mädchen gegenüber in einen Sessel.
Melanie Meyer wirkte verstört, war von einem Schock wohl nicht weit entfernt. Ohne den Zuspruch ihrer Mutter wäre sie sicher zusammengebrochen.
»Darf ich dich Melanie nennen?«, fragte Nele.
Das Mädchen – bildhübsch, mit langem brünettem Haar und haselnussbraunen Augen – nickte.
»Gut, Melanie. Würdest du mir bitte noch einmal erzählen, was du meinem Kollegen schon gesagt hast?«
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte die Mutter dazwischen.
Nele verneinte.
Melanie begann stockend. »Der Bahnübergang …«, sie sah in den Garten hinaus, schien etwas zu suchen, »… ich bin gestern Abend auch dort gewesen.«
»Wann?«
»Vorher«, mischte Eckert Glanz sich ein.
»Und du hast etwas bemerkt?«, fragte Nele.
Melanie nickte heftig. »Da war jemand … ein Mann, er kam an meinen Wagen und hat auf die Scheibe geschlagen … ich … ich hatte schreckliche Angst.« Melanie schnäuzte sich in ein zusammengeballtes Taschentuch. Ihre Mutter strich ihr über den Rücken.
»Ist das wirklich notwendig? Sie hat doch Ihrem Kollegen schon alles erzählt. Es ist ja auch gar nichts weiter passiert«, sagte Gudrun Meyer mit zänkischer Stimme.
Nele fixierte sie.
»An dem Bahnübergang ist gestern Nacht ein Mädchen verschwunden. Ich finde also nicht, dass gar nichts weiter passiert ist.«
»Na ja … ich meine ja auch nur.«
»Hast du den Mann erkannt, Melanie?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Es war dunkel und er trug eine Kapuze … ich konnte das Gesicht nicht sehen.«
Plötzlich sah sie auf. »Haben Sie schon von dem Unfall gehört?«
Die sonst sicherlich hübschen Augen des Mädchens hatten jetzt einen panischen, fast schon
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