Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
wirren Ausdruck. Zuerst wusste Nele nicht, was sie meinte, doch dann fiel ihr das Holzkreuz ein.
»Die vier toten Jugendlichen?«
Melanie nickte und zog die Nase hoch. »Sie waren meine Freunde … und eigentlich hätte ich auch in dem Wagen sitzen sollen …«
»Gott sei’s gedankt, dass du nicht dabei warst«, sagte Frau Meyer und faltete die Hände wie zum Gebet. »Jeden Abend danke ich ihm dafür, dass er dich hat krank werden lassen.«
»Mama … bitte!«
»Nein, das muss auch mal gesagt werden. Die haben alle getrunken damals.«
»Mama, das stimmt doch nicht.« Melanie sah Nele direkt an. »Okay, sie waren unterwegs zu einer Party und hatten getrunken. Aber Arno nicht. Arno hat so gut wie nie Alkohol getrunken und schon gar nicht, wenn er fuhr.«
»Arno hat also den Wagen gefahren?«, fragte Nele.
Melanie nickte. »Arno war vernünftig, wirklich, das können Sie glauben. Der war ganz sicher nicht betrunken. Und
ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er freiwillig auf die Gleise gefahren ist.«
»Was meinst du damit?«
»Na ja … ich meine … ich weiß auch nicht … vielleicht hatten sie ja Angst. Vor diesem Mann. Vielleicht war er in der Nacht auch dort draußen am Bahnübergang.«
»Was macht dich so sicher, dass es ein Mann war?«, fragte Nele.
»Ich … ich weiß nicht.«
»Was hat die Person denn getan? Hat sie dich bedroht?«
»Er hat … er wollte, das war so unheimlich, er hat auf die Scheibe geschlagen, und als die Schranke hochging, bin ich losgefahren, so schnell ich konnte.«
Mit den letzten Worten brachen die Tränen wieder durch. Die Mutter zog ihre Tochter zu sich heran, strich ihr abermals über den Rücken und warf Nele einen vernichtenden Blick zu. Nele wartete, bis das Mädchen sich etwas beruhigt hatte. Auf die besorgte Mutter konnte sie keine Rücksicht nehmen.
»Und du meinst also, deinen Freunden könnte damals etwas ganz Ähnliches passiert sein«, führte sie den Gedanken des Mädchens zu Ende. »Dass jemand sie auf die Gleise getrieben hat?«
Melanie sah sie aus verquollenen Augen an und nickte. »Ich hab solche Angst«, flüsterte sie.
»Das kann ich gut verstehen, aber jetzt musst du keine Angst mehr haben. Was immer passiert ist – und wir wissen ja noch nicht einmal, ob überhaupt etwas mit Jasmin passiert ist -, wir finden es heraus. Okay?«
Das zaghafte Nicken drückte nicht gerade viel Vertrauen aus.
Nele erhob sich aus dem Sessel. Das Leder knarzte altmodisch.
»Frau Meyer, könnten Sie bitte mit zur Tür kommen?«
Glanz und Siebert gingen auf den Hof hinaus, während Nele mit der fülligen Frau Meyer auf der Schwelle zur Haustür stehen blieb.
»Hören Sie«, sagte Gudrun Meyer, »Sie dürfen dem nicht zu viel Gewicht beimessen. Melanie ist seit dem Unfall nicht mehr dieselbe. Sie war auch einige Zeit bei einem Therapeuten in Behandlung. Das hat sie alles sehr mitgenommen.«
Nele sah die Frau an. »Wollen Sie damit sagen, Ihre Tochter habe sich das gestern Abend nur eingebildet?« Sie legte eine gewisse Schärfe in ihre Stimme, denn so langsam wurde sie wirklich sauer. Hätten die Meyers gestern Abend die Polizei informiert, wäre Jasmin vielleicht nicht verschwunden.
Gudrun Meyer zuckte zurück. »Ich weiß nicht … ich meine … könnte die kleine Dreyer denn nicht einfach weggelaufen sein? Wie man hört, hat sie schon einen Freund.«
Darauf antwortete Nele nicht.
»Wo steht Melanies Wagen?«, fragte sie stattdessen.
»Eigentlich ist es meiner, aber Melanie darf ihn mitbenutzen. Er steht in der Scheune, warum?«
»Er darf bis auf Weiteres nicht bewegt werden. Ein paar Kollegen werden kommen und ihn sich ansehen.«
Nele ging die drei Stufen zum Hof hinunter.
»Ja, aber …«, setzte Frau Meyer an.
»Und lassen Sie Melanie ein paar Tage zu Hause. Vielleicht sollten Sie sogar einen Arzt rufen. Es könnte sein, dass sie einen Schock hat.«
Tim und Eckert warteten am Wagen.
»Ruf die Spurensicherung an und sag ihnen, sie sollen die Windschutzscheibe des Wagens untersuchen. Er steht
in der Scheune«, wies Nele Eckert an. Dann sah sie sich suchend um. »Ich könnte einen Kaffee brauchen, und au ßerdem müssen wir uns in Ruhe unterhalten. Gibt es hier eine Kneipe?«
Eckert Glanz nickte. »Die Waldschänke. Keine zwei Minuten mit dem Auto.«
Sie fuhren hin. Nele ärgerte sich, dass sie nicht zu Fuß gingen, denn Bewegung war etwas, was in ihrem Job zu kurz kam, aber wie sah das aus, wenn drei Beamte an einem Morgen kurz vor
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