Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
gewesen war.
Er saß immer noch hinter dem Steuer seines Wagens, das Fläschchen mit dem Babyöl in den Händen. Der intensive Duft hatte die Nase betäubt, die wärmende Sonne war mit der Erinnerung verschwunden, die Realität, grau und alt, starrte ihn an.
Vor dem Wagen stand eine alte Frau und glotzte. Ein zerfurchtes Gesicht, eingerahmt von grauen Locken, auf denen ein altmodischer Hut thronte. Die Frau schob einen Gehwagen vor sich her, in dessen Korb ihre Einkäufe lagen.
Warum war sie stehen geblieben und starrte ihn an?
Ihr Blick hatte etwas … Erschrockenes.
Kannte er sie?
Vielleicht lag es einfach nur daran, wie er hinter dem Steuer hockte. Apathisch, weggetreten, mit weit aufgerissenen Augen und einer Flasche Babyöl in der Hand.
Er klappte den Verschluss zu und legte sie weg. Als die alte Frau sah, dass er sich bewegte, packte sie die Griffe ihres Gehwagens fester und zog von dannen. Sie blickte sich noch zweimal um, was er sehr wohl bemerkte. Er war ihr aufgefallen, das war nicht gut und durfte sich nicht wiederholen. Solange er niemandem auffiel, solange er ein blasses, graues Gesicht in der großen Masse blieb, vergessen im Moment des Erblickens, kam er unbehelligt und unerkannt durchs Leben, konnte tun, was er tun musste, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Ein Fisch im gewaltigen Schwarm, und doch anders als alle anderen, dies zu verbergen und zu wahren war eine Kunst, die er zur Perfektion gebracht hatte.
Er startete den Wagen und verließ den Parkplatz des Supermarktes. Es begann wieder zu regnen. Zunächst nur leicht, dann steigerte es sich zu einem Wolkenbruch, der aber rasch wieder versiegte und einem zerrissenen Himmel Platz machte. Als er nach einer halben Stunde Fahrt in die ländlichen Gebiete gelangte, verhielt er sich wie immer, fuhr ein wenig in der Gegend umher, nahm Abzweigungen und Straßen, die nichts mit seinem Ziel zu tun hatten, und beobachtete genau, ob ihm jemand folgte. Und wie immer war das auch heute nicht der Fall.
Schließlich steuerte er den kleinen einsamen Parkplatz am Rande des Waldgebietes an. Und war erstaunt, einen Wagen darauf stehen zu sehen. Das passierte zum ersten Mal.
Langsam rollte er vorbei. Der Wagen war leer.
Sollte er sich einen anderen Platz suchen? Es gab viele Möglichkeiten, und er hatte sie alle ausgekundschaftet. Das wäre die sicherste Alternative. Aber vorher musste er etwas herausfinden. Er parkte seinen Wagen ein gutes Stück entfernt, stellte den Motor ab, stieg aus und lauschte. Ein paar Minuten blieb er so stehen.
Stille.
Keine Stimmen.
Wer auch immer mit dem anderen Wagen, einem dunklen VW-Passat, gekommen war, hielt sich ganz sicher nicht in der Nähe auf. Er schlenderte hinüber und sah sich dabei immer wieder um. Dann warf er einen Blick in das Innere des Wagens – und erstarrte!
Im Fußraum des Beifahrers lag eines dieser Einsatzlichter, die sich auf das Wagendach heften ließen.
Ein ziviles Polizeifahrzeug!
Es gab Tage, da machte es ihm Spaß, vorn zu stehen, das Wort zu führen, den Ton anzugeben. Jemand, der führen konnte und von dem andere sich gern führen ließen. Das war zugegebenermaßen ein gutes Gefühl. Aber es gab auch andere Tage, an denen er gern darauf verzichtete, und heute war einer davon.
Für Dag Hendrik war es nicht die erste Pressekonferenz, und so wie sich seine Karriere bei der Polizei gestaltete, würden noch viele weitere folgen. Ein Aspekt der Polizeiarbeit, der in den letzten Jahren immer stärkere Bedeutung bekommen hatte, war eben die Öffentlichkeitsarbeit. Und ob es einem gefiel oder nicht, es wurde eingefordert, geschürt durch die Regenbogenpresse, genährt durch die privaten Sender, die jede Menge Sendezeit zu füllen hatten.
Das bedeutete, er musste sich mit den Terriern der Boulevardpresse ebenso gut verstehen wie mit den sachlichen Typen der seriösen Zeitungen und Sender. Ein Balanceakt, gerade für ihn, denn es gab da ein paar Gesichter in der Meute, die er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Natürlich würden die heute auch wieder dabei sein.
In ein paar Minuten ging es los. Hendrik ahnte, dass es nicht leicht werden würde. Höchste Konzentration war gefordert. Er durfte nichts Falsches sagen, nichts, was unter der Bevölkerung Panik entfachen konnte oder der Regenbogenpresse allzu viel spekulativen Freiraum ließ. Das Wort Serientäter durfte er nicht einmal ansatzweise in den Mund nehmen. Döpner hatte ihm das unmissverständlich mit auf den Weg gegeben. Leider
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