Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Körper weg. Darunter bildete sich eine Luftblase, die eine Zeit halten würde. Er stieg aus dem Wasser, sah sich um.
Alle anderen Badegäste waren in dem verharrt, was sie gerade getan hatten. An der Bude stand einer, dem guckte die halbe Bratwurst aus dem Mund. Der Bademeister
saß auf seinem Turm und schien die Pfeife verschlucken zu wollen, ein paar Mädchen in seinem Alter, die am Beckenrand saßen und die Beine ins Wasser hielten, glotzten mit riesigen Augen, in denen sich Abscheu und Entsetzen spiegelten.
Der Junge blinzelte gegen die Sonne, und der Spuk verschwand. Keiner, nicht ein Mädchen oder Junge, schenkte ihm Beachtung. Alle waren mit sich selbst beschäftigt.
Bis auf einen.
Der Vater.
Während der Junge auf den Liegeplatz zuging, spürte er wie flüssiges Feuer die Blicke des Vaters auf seinem Körper. Sie waren viel heißer als die Strahlen der Sommersonne. Er lag auf dem Bauch, hatte das Kinn auf die überkreuzten Arme gestützt und schien zu dösen. Doch durch einen Spalt zwischen den Lidern, das wusste der Junge genau, beobachtete er ihn.
Die Luftblase in seiner Hose verschwand, noch ehe er die Decke erreichte. Die letzten Schritte lief er, sprang förmlich auf die Decke und ließ sich auf den Bauch fallen. Seine Mutter, die jetzt zwischen ihm und dem Vater lag, blinzelte ihn träge an.
»Trockne dich ab«, nuschelte sie. »Du hast ja ganz blaue Lippen.«
Er nahm ein Handtuch und begann im Liegen damit, sich trocken zu rubbeln.
»Stell dich hin, und dann wechselst du die Badehose, so wie wir alle.«
Da war er, der Dolchstoß!
Die Stimme des Vaters. Hart, fest, unnachgiebig.
»Schatz …«. Seine Mutter wollte ihm helfen, doch ein einziger eisiger Blick brachte sie zum Schweigen.
»Er tut jetzt, was ich gesagt habe, oder ihr erlebt heute beide noch euer blaues Wunder.«
Der Junge nahm das Badehandtuch, eine trockene Badehose und stand auf. »Ich gehe zu den Kabinen. Ich muss sowieso auf die Toilette.«
»Nein. Du machst es hier. Vor meinen Augen.«
Vor den Augen aller anderen, das war es, was der Vater eigentlich meinte. Er sollte sich hier in der Öffentlichkeit ausziehen, sich blamieren, demütigen lassen. Da war sie, die Rache für den Fußtritt im Schwimmbecken.
Der Junge blieb stehen. Sah auf seinen Vater hinab, der unverändert dalag und die Augen geschlossen hielt. Ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Daneben seine Mutter, den Oberkörper halb aufgerichtet, ein flehender Blick in seine Richtung, die Situation nicht eskalieren zu lassen.
In dem Gefängnis in seinem Inneren begann etwas an den Stäben zu rütteln. Sie knirschten in ihren Verankerungen im Beton, Staub und Steine fielen herab, bald würden sie sich ganz lösen.
Der Junge stand da.
Die heiße Sonne auf den Schultern, Handtuch und Hose vor den Schritt haltend, den Blick gesenkt. Um ihn herum war die Welt so normal wie eh und je, spielten die Kinder, kreischten die Mädchen, küssten sich die Teenager und Erwachsenen. Aber innerhalb dieser vier Quadratmeter, die ihr Liegeplatz einnahm, war die Luft gefroren und heiß zugleich und bildete eine in sich geschlossene Einheit, in der es sich kaum atmen ließ.
Mit einer schnellen Bewegung schlug der Vater seiner Mutter den Arm weg, auf dem sie ihren Oberkörper aufgestützt hatte. Sie fiel auf die Decke zurück. Ihr Blick wurde panisch.
Er konnte sich widersetzen, würde später die Prügel ertragen, konnte sie ertragen, wenn er dadurch dieser Blamage und Demütigung entging. Aber es ging nicht nur um ihn. Dieser schnelle Schlag war nur dazu gedacht, ihm zu zeigen, wer später die meisten Schläge kassieren würde. Der Junge wusste, er würde es nicht ertragen können, in seinem Zimmer eingesperrt zu sein, die gedämpften Schmerzensschreie seiner Mutter zu hören und nichts tun zu können.
Also zog er die nasse Badehose aus.
Hielt den Blick gesenkt, wagte es nicht hochzusehen.
Das Gekicher der Mädchen bekam er trotzdem mit.
Sein Kopf lief knallrot an.
Tief in seinem Inneren brachen die Gitterstäbe.
An dem Tag hatte die Befreiung begonnen.
Letztlich hatte es sich nicht als so entsetzlich herausgestellt, wie er befürchtet hatte. Ganz im Gegenteil. Vorher hatte er vegetiert, seitdem lebte er. Hinter diesen Gitterstäben war nämlich kein Monster eingesperrt, sondern seine wahre Persönlichkeit. Sie war an diesem Nachmittag im Schwimmbad entkommen, hatte aber noch Wochen gebraucht, um die Stärke zu entwickeln, die für den wichtigsten Schritt notwendig
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