Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
steht, sieht man es sicher gar nicht«, überlegte Anou. »Bleib du hier stehen, ja. Ich gehe runter und du dirigierst mich hin.«
»Wie du willst.«
Anou stieg ohne Hast die Treppe hinab und war froh, endlich wieder den wirklichen Waldboden unter ihren Fü ßen zu spüren. Das da oben war ein unnatürliches, seltsam verwirrendes Gefühl. Sie lief um das Gebäude zu der Stelle, an der Peter Schröder stand und sah hinauf.
»Alles klar«, rief sie. »Welche Richtung?«
»Elf Uhr«, schrie Tim zurück und wies mit dem Arm dorthin.
Anou kämpfte sich durch das anfangs noch lichte Unterholz. Der Waldboden war weich und voller Stolperfallen, von Moos überwachsene Wurzeln und Äste, mitunter Löcher, von Hasen oder Füchsen gebuddelt.
»Gleich hast du es!«, schrie Tim von oben.
Anou sah den blauen Fleck. Sie bückte sich unter den tief hängenden Zweigen einer Fichte hindurch, stieg über einen umgestürzten Baumstamm, ging auf die Knie und betrachtete den Gegenstand, ohne ihn anzufassen. Es war eine kleine Flasche. Anou kannte die Form und auch das Markenemblem. Bei dem blauen Gegenstand handelte es sich um eine Flasche Penaten-Babyöl.
Merkwürdig!
Anou nestelte die durchsichtigen Handschuhe aus ihrer
Jackentasche und zog sie an. Erst dann nahm sie die Flasche auf.
Noch merkwürdiger. Sie war voll. Unbenutzt. Der Deckel war noch original verschlossen, und das Etikett sah nicht so aus, als würde es schon lange hier im Wald liegen. Ganz sicher nicht seit dem letzten Sommer. Anou konnte sich gut vorstellen, wozu Liebespaare Babyöl brauchten, auch sie hatte für erotische Massagen schon welches benutzt, doch die Flasche lag erst seit kurzem hier. Und im Winter kamen hier sicher keine Pärchen her, viel zu ungemütlich. Sie nahm die Flasche auf und ging zum Bunker zurück.
Tim war vom Dach heruntergestiegen und wartete schon auf sie. Anou zeigte ihm die Flasche, die er jedoch nicht berührte.
»Hm«, machte er und rieb sich den Bart. »Das ist schon seltsam. Immerhin bedeutet es, dass in den letzten Tagen jemand hier gewesen sein muss.«
»Werden hier keine Forstarbeiten durchgeführt?«, fragte Anou Peter Schröder.
»Kaum. Dafür ist das Gelände einfach zu groß, und das Personal wird immer weniger. Für mich ist auch kein Neuer eingestellt worden. Schauen Sie sich den Wald doch mal an. Total verwildert. Heutzutage kümmert sich die staatliche Forstaufsicht nur noch um wenige Bereiche, meist solche, die als Naherholungsgebiete genutzt werden. Das alte Eibia-Gelände soll ja möglichst niemand betreten, deshalb findet hier auch keine Aufforstung mehr statt. Die letzte ist, glaube ich, vor zehn Jahren gewesen. Und auch nicht überall.«
»Also kann die Flasche auch nicht von einem ihrer ehemaligen Kollegen stammen?«
Peter Schröder zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber wozu sollten die Babyöl brauchen? Bei der Arbeit bestimmt nicht.«
Anouschka und Tim sahen sich noch eine Weile in der Nähe des Bunkers um, schenkten dem Waldboden dabei besondere Beachtung, entdeckten aber nichts mehr, was ihre Aufmerksamkeit erregt hätte. Den Bunker konnte man nicht betreten, da alle Eingänge zugemauert waren, und Eingänge in das unterirdische Labyrinth, das es hier früher einmal gegeben haben sollte, fanden sie auch nicht. Es gab auch keine Spuren, die darauf hindeuteten, dass kürzlich jemand hier gewesen war. Bis auf die Flasche Babyöl.
Während ihrer Suche hatte es wieder zu regnen begonnen. Dem schlimmsten Platzregen waren sie unter dem Überdach des Bunkers entgangen, trotzdem fühlte sich ihre Kleidung bald klamm an, und sie kühlten mehr und mehr aus. Nach einer weiteren Stunde entschlossen sie sich, den Rückweg anzutreten. Sie würden ihren Fund mit Nele Karminter besprechen und ihn im Labor abgeben. Man konnte das nicht als Spur bezeichnen, höchstens als Fund, und aus der Sicht der beiden rechtfertigte es sicherlich keine großartige Durchsuchung des Geländes.
Sie folgten Peter Schröder, der sie auf demselben Weg aus dem Wald herausführte, auf dem sie hergekommen waren. Es war ein Trampelpfad, mehr nicht, teilweise überwachsen, von umgestürzten Bäumen versperrt, aber, wenn man einmal ein Auge dafür entwickelt hatte, doch zu erkennen. Anou, die sich nie viel in der freien Natur aufhielt, gefiel der Wald nicht. Er war ihr zu dicht, zu unübersichtlich, eine Welt, die fremd und vielleicht sogar gefährlich war. Objektiv wusste sie, dass es in Deutschlands Wäldern nichts gab, wovor sie
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