Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
von einer Frau gehört, die so etwas überlebt hat?
Nein, nein, nein! Sie würde nicht hier unten sterben! Frauke wollte ihr Kind wiedersehen, wollte leben, wollte alles nachholen, was sie wegen der vielen Arbeit schon seit Jahren vor sich herschob.
Ja, genau!
O bitte, lieber Gott, wenn du mich das hier überstehen
lässt, werde ich ein neues Leben beginnen. Dann werde ich eine bessere Mutter, eine erträglichere Partnerin, ich werde die Welt genießen lernen und nicht immer nur ans Geld denken. Bitte, lieber Gott, hör mich doch an!
Zuletzt war sie als Konfirmandin in der Kirche gewesen, und schon damals waren ihre Gebete nur Gewäsch gewesen, nur Schein und Trug. Seit damals hatte sie sich nicht mehr an Gott gewandt, nicht einmal bei Mandys Geburt, als es auf der Kippe gestanden hatte und sie fast gestorben wäre.
Doch jetzt musste Gott helfen! Er konnte doch nicht einfach die Augen verschließen vor ihrem Leid!
Frauke begann zu zittern. Sie rollte sich wie ein Fötus zusammen und raffte die unangenehmen Decken um ihren schutzlosen, nackten Körper. So daliegend und lauschend betete sie weiter und legte sich ein Mantra zurecht.
Hilf mir Gott, und ich werde ein besserer Mensch …
Hilf mir Gott, und ich werde ein besserer Mensch …
Hilf mir Gott …
Ihre Lider wurden schwerer und schwerer.
Hilf mir Gott …
Immer schwerer.
Das riesige Gelände der Eibia-Pulverfabrik glich einem verwunschenen Land, an dem jeder Regisseur für gruselige Kindermärchen seine Freude gehabt hätte. Es gab ausgedehnte Sandhügel, den Dünen Dänemarks gleich, dazwischen tiefe Einschnitte, immer wieder morastige Bäche, und über allem das wie eine bleierne Glocke wirkende Dach der Nadelbäume, die im Wind zu singen schienen. Hin und wieder fanden sie Überreste alter Bunker, zumeist nur vermooste Betonbrocken, versteckt unter Laub und Unterholz,
aber es waren auch größere Abschnitte dabei, ganze Wände, die nach den Sprengungen einfach liegen geblieben waren. Aufgehäufte Betonteile, aus denen verrostete Stahlbewehrung herausstach, Zwischenräume wie Höhlen, in denen man sich oder andere verstecken konnte.
Ein gutes Stück gingen sie neben einem ehemaligen Zaun entlang, der nach Peter Schröders Auskunft früher das ganze Areal eingefriedet hatte. Vier Meter hohe Pfeiler aus grauem Beton, ehemals verbunden durch Maschenzaun und Stacheldraht. Jetzt lagen die Pfeiler zumeist zerstört am Boden, der Stacheldraht war lange entfernt.
Als sie den Rückweg hinter sich gebracht hatten, waren Tim und Anou nass und müde. Nur der alte Schröder machte einen fitten Eindruck. Eigentlich sah er noch genauso aus wie vor dem Marsch, was speziell Tim deprimierte.
Anou warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, als sie den Parkplatz erreichten. Beinahe fünfzehn Uhr. Sie musste Nele anrufen. Aber zuvor musste sie etwas anderes furchtbar dringend. Was nicht ganz einfach war mit zwei Männern.
Tim und Peter Schröder standen schon beim Wagen und klopften sich die vor Dreck starrenden Stiefel ab, während Anou auf halbem Weg stehen blieb und sich nach einer geschützten Stelle umsah.
»Was ist?«, rief Tim auf einem Bein hüpfend.
»Ich muss für kleine Mädchen«, antwortete Anou und deutete auf den Waldrand.
Sie ging rasch darauf zu, tauchte unter einem Baum hinweg und drückte zwei Büsche auseinander. Ein paar Meter lief sie ins Unterholz, ehe sie sich umdrehte und davon überzeugte, dass die Männer sie nicht sehen konnten. Dann zog sie die Hose runter und hockte sich hin.
Sie war zum Greifen nah!
Keine fünf Meter von ihm entfernt pinkelte die Frau in den Wald. Nach wie vor saß er an seinem Baumstamm gelehnt und rührte sich nicht. Einzig seine Hand hatte das Messer ergriffen und hielt es fest umklammert.
Er hatte sie genau beobachtet, während sie durch das Unterholz auf ihn zugekommen war. Fünf Schritte noch, und sie wäre ihm direkt in die Arme gelaufen. Eine dunkelhaarige, braune Schönheit. Schlank, sportlich, mit langen Armen und Beinen. Schon stellte er sich vor, wie sie nackt und mit Öl eingerieben in seinen Ketten aussehen würde. Das perfekte Gemälde! Haut wie Kakao!
Er musste sie haben!
Sie war etwas Besonderes, nicht zu vergleichen mit denen, die er bisher in sein Versteck gebracht hatte. Außerdem wirkte sie stark und selbstbewusst, auch aus der Entfernung. Plötzlich schwitzte er stark und spürte ein Ziehen im Unterbauch. Der Schaft des Messers wurde rutschig in seiner Hand. Wie einfach wäre es, sie zu
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