Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
gutes Zeichen. Wofür sollte er Lebensmittel kaufen gehen, wenn er sie bald umbringen wollte?
Bevor er ging, löschte er alle Kerzen. Anou konnte nicht mehr sehen, wohin er verschwand, wo sich der Ausgang dieser Höhle befand. Sie konzentrierte sich auf die Geräusche. Seine Schritte entfernten sich nur langsam, und es klang, als führe ein langer unterirdischer Gang von hier fort.
Schließlich wurde es sehr, sehr still.
Nur widerwillig ließ Anou sich auf den Matratzen nieder. Die Decken kratzten auf ihrer nackten Haut, ihr Gestank verursachte Übelkeit. Aber sie hatte keine Wahl; sie konnte nicht die ganze Zeit stehen bleiben, ihre Beine begannen zu zittern, ihre Kraft ließ nach. Die Knie ganz nah an die Brust gezogen und mit den Armen umschlungen hockte sie dort und lauschte. Lauschte in die nahezu perfekte Stille, in der nichts weiter zu hören war als stetig tropfendes Wasser. Anouschka ahnte, wo sie sich befand. Den Wänden nach zu urteilen konnte es sich nur um einen Bunker handeln, und wenn sie dazu noch den Geruch an ihrem Körper addierte –
eindeutig Babyöl -, verfluchte sie sich nachträglich selbst dafür, dass sie ihrem Fund an dem alten Bunker nicht mehr Bedeutung beigemessen hatte.
Andererseits war dieser Fund jetzt ihre einzige Hoffnung! Nele würde nach ihr suchen, schon längst, und vielleicht stellte ja irgendjemand eine Verbindung her! Darauf allein wollte sie aber nicht vertrauen, und deshalb war es wichtig, Zeit und damit Möglichkeiten zu gewinnen. Anou hatte in den wenigen Minuten den Eindruck erlangt, diesen Mann beeinflussen zu können. Immerhin musste es ja einen Grund dafür geben, warum er ausgerechnet sie aus ihrer Wohnung entführt hatte. Das war mit hohen Risiken verbunden gewesen.
Warum hatte er das getan?
Vielleicht war das die erste Frage, die sie ihm stellen sollte, wenn er wieder da war!
Tim Siebert war der Spur in den Graben gefolgt. Zwischen den Betonbrocken gab es einen Weg, auf dem Fußspuren zu erkennen waren. Auf der anderen Seite des Grabens, wo es steil bergan ging, zeichnete sich eine deutliche Schleifspur im Gras ab, ganz so, als habe jemand etwas Schweres den Hang hinaufgezogen. Außerdem war an einem umgestürzten Baumstamm der Bewuchs aus Moos beschädigt, große Placken hingen herab.
Mit ungesund hohem Puls kroch Tim den Hang hinauf, ließ sich oben auf alle viere hinab und verharrte. Jenseits der Kuppe setzte sich der undurchdringliche Wald fort. Der Boden war dicht überwuchert von Dornengestrüpp und Brennnesseln, dazwischen konnte Tim kantige Betonbrocken sehen, fast eingewachsen ragten sie wie Eisberge aus dem Wasser. An einem Hang rechts von ihm wuchs hoher
Farn. Alles war grün, feucht, modrig und fremdartig. Dies war eindeutig kein Wald, in dem man seinen Sonntagsspaziergang absolvierte. Dieses war eine andere Welt, hier war man fernab der Zivilisation, auch wenn der nächste Ort keine zwanzig Kilometer entfernt lag.
Tim wartete, bis sein Atem sich beruhigt und sein Puls sich normalisiert hatte. Währenddessen beobachtete er den Wald. Bewegungen waren nirgendwo auszumachen. Aber die Spur ging weiter. Er folgte ihr. Der Weg war beschwerlich. Es musste sich um einen außergewöhnlich kräftigen Mann handeln, wenn er durch diesen Urwald einen bewusstlosen menschlichen Körper schleppen konnte.
Plötzlich war der Boden weg!
Wäre Tim nicht vorsichtig und langsam gegangen, er wäre zu Tode gestürzt. Sechs Meter tief fiel es vor seinen Füßen ab. Unten lagen verstreut Betonbrocken mit Eisenbewehrung, ideal, um einen fallenden Körper aufzuspießen. Ihn schauderte bei dem Gedanken, und für den Bruchteil einer Sekunde sah er sich wirklich dort unten liegen. Blutüberströmt, mit gebrochenem Blick und Hals.
Er befand sich auf einer Mauer, vielleicht auch auf dem ehemaligen Dach eines Bunkers, so genau ließ sich das nicht feststellen. Hier brach die Spur plötzlich ab.
Suchend sah Tim sich um.
Rechts von ihm schien es weiterzugehen. Dort lagen die Betonbrocken zu einer riesigen Treppe aufgetürmt. Als er auf dem ersten Brocken stand, konnte er wieder deutlich die beschädigte Moosdecke sehen. Wer hier entlanggekommen war, hatte sich nicht viel Mühe gegeben, seine Spur zu verwischen. Wozu auch! Niemand verirrte sich in diesen Teil des Waldes, schon gar nicht so weit abseits aller Wege. Ein ideales Versteck.
Auf dem dritten Brocken rutschte Tim aus, schlug auf den Hosenboden und schrie auf vor Schmerz. Der Stoß ging durch die Wirbelsäule
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