Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Zeit und du gewinnst Möglichkeiten!
An diesen einen Satz klammerte sich Anouschka Rossberg, seitdem sie aus der Betäubung erwacht war und wieder halbwegs klar denken konnte.
Gewinne Zeit und du gewinnst Möglichkeiten!
Als sie die Kraft gefunden hatte, die Augen zu öffnen, und damit den Kampf gegen die immer wiederkehrende, neblig-feuchte Dunkelheit in ihrem Kopf gewann, war sie
vom Begreifen zunächst noch weit entfernt gewesen. Übelkeit und hämmernde Kopfschmerzen waren nicht die besten Begleiter für logisches Denken. Und dennoch, der Kopf wollte begreifen, und als es so weit war, wäre sie am liebsten wieder in die Dunkelheit abgetaucht.
Die Erkenntnis, nackt und hilflos in einer finstren Höhle angekettet zu sein, nur erhellt von einer einsamen Kerze, war schon schlimm genug. Als sich dann aber die logische Schlussfolgerung dazugesellte, dass sie sich in den Händen des Täters befinden musste, nach dem sie suchten, war sie beinahe in Panik ausgebrochen. Nur mühsam hatte sie ihre Tränen unterdrücken können.
Für alles im Leben aber gab es eine Steigerung, und in ihrem Fall war es der Moment, in dem der fremde Mann die Kerzen entzündete und sich ihr zeigte. Nackt, muskulös, glänzend, einen unnatürlich großen Dildo mittels eines Ledergeschirrs um seine Hüften geschnallt. Und sie selbst hing in Ketten, schmerzhaft gedehnt die Arm- und Schultermuskulatur, keine Möglichkeit zur Flucht oder zur Gegenwehr. Sie war nackt, fühlte sie schmierig, roch den merkwürdigen Geruch auf ihrer Haut und wusste, dass sie ihn kennen sollte. Aber da war der Mann, er kam auf sie zu, der Dildo ausgestreckt wie eine Machete, und Anouschka konnte an nichts anderes mehr denken als die bevorstehende Vergewaltigung. Sie war ein praktisch orientierter Mensch, hatte schon immer im selben Moment, in dem Probleme entstanden, nach Lösungen gesucht.
Für ihre Situation gab es keine, und so machte sie blitzschnell einen Plan, wie sie mit dem umgehen sollte, was ihr bevorstand. Sie würde alles mitmachen, würde so tun, als sei es nicht ihr Körper. Eine Puppe, ja, eine Puppe, die könnte er schänden ohne Folgen für Körper und Geist. Es
war eine reine Willensfrage, den Geist vom Körper zu trennen. Irgendwo hatte sie das mal gelesen. Darauf musste sie sich jetzt konzentrieren, den Geist vom Körper zu trennen und sich damit unverwundbar zu machen. Wenigstens für eine Zeit lang, für die Dauer der Vergewaltigung. Was danach passieren würde … darum konnte sie sich später kümmern.
Doch es kam zu keiner Vergewaltigung. Anouschka war sich sicher, dass er sich während ihrer Betäubung nicht an ihr vergangen hatte, und auch jetzt schien er es nicht eilig zu haben damit. Er begann ein Gespräch mit ihr, und sie schöpfte neue Hoffnung.
Psychologie! Jetzt musste sie anwenden, was sie während ihres Studiums gelernt hatte. Und da war der eine Satz haften geblieben.
Gewinne Zeit und du gewinnst Möglichkeiten!
Sie war seine Gefangene, nicht die erste, und da er nicht bereit war, über die anderen Frauen zu sprechen, ging Anou davon aus, dass sie tot waren. Ihr drohte dasselbe Schicksal, es sei denn, sie war cleverer und geschickter. Sie hatte eine Ausbildung, das war doch ein Vorteil! Das musste einfach ein Vorteil sein!
Ohne wirklich darüber nachzudenken, versuchte sie die harte, autoritäre Tour. Nur nicht einschüchtern lassen, Stärke zeigen, vielleicht schreckte ihn das ab. Erst als sie seine Hand an ihrem Hals spürte, nach Atem rang und trotzdem merkte, wie der Dildo an ihrem Bauch entlangstrich, entschied Anou sich, diesen Weg nicht weiterzuverfolgen. Dieser Mann reagierte auf ihre Stärke nicht so, wie sie es erwartet hatte. Er wurde schnell wütend.
Sie stellte auf die Verständnisvolle um, verlegte sich aufs Bitten, versuchte, ihm ihre Situation klarzumachen und
sich selbst als ein menschliches, Schmerz empfindendes Wesen darzustellen, damit er sie nicht weiterhin nur als Stück Fleisch sehen konnte. Und scheinbar funktionierte es! Er ließ von ihr ab. Er lächelte, sprach mit ihr. Schnell merkte sie, dass er leider auch clever war und sie höllisch aufpassen musste! Sie brauchte eine Strategie, irgendwas, an dem sie sich orientieren konnte. Sie brauchte mehr Zeit zum Nachdenken!
Überraschenderweise bekam sie die.
Er löste ihre Ketten gerade so weit, dass Anou auf dem stinkenden Matratzenlager Platz nehmen konnte, zog sich an und sagte, er würde Lebensmittel kaufen gehen. Das interpretierte Anou als
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