Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
blieb Nele plötzlich stehen, drehte sich um und sah Eckert an. »Das hatte ich ja ganz vergessen. Wo steckt eigentlich Tim?«
Eckert Glanz zuckte mit den Schultern.
»Ruf mal auf seinem Handy an«, befahl Nele, »wir brauchen ihn jetzt hier. Ich verstehe sowieso nicht, warum er sich nicht meldet.«
6.
Tag, mittags
Beim ersten Mal waren sie zu dritt gewesen, hatten Lärm gemacht, sich unterhalten und die Umgebung gar nicht richtig wahrgenommen. Jetzt war er allein – und alles sah ganz anders aus. Tim Siebert hielt sich nicht für einen ängstlichen Menschen. Schon als Schüler war er immer derjenige gewesen, der Risiken einging, wenn es brenzlig wurde, der den ersten Schritt machte, wo andere sich nicht trauten. Während seiner Bundeswehrzeit hatte er viele Nächte im Wald verbracht, mit einer Waffe, in der nur Platzpatronen steckten. Dunkelheit, Einsamkeit oder ein tiefer, undurchdringlicher Wald machten ihm normalerweise keine Angst. Heute war das anders.
Der Wald hatte eine einschüchternde Wirkung auf ihn, und jeder Schritt schien dieses Gefühl zu verstärken. Lag es daran, dass er sich wie abgeschnitten fühlte von der Zivilisation? Versetzt in eine Welt, die nichts gemein hatte mit der alltäglichen? Schon nach einer halben Stunde Marsch meinte er, sich in dem Dschungel verlaufen zu haben. Vor zwei Tagen, mit dem Forstwirt Schröder an ihrer Seite, war es einfach gewesen. Sie hatten einfach nur mitlaufen müssen, ohne auf den Weg zu achten. Heute hatte er zwar eine Karte, aber die Pfade, auf denen er sich vorwärtskämpfte, waren darauf nicht eingezeichnet. Die Karte war für ihn wertlos.
Hatte er sich schon verlaufen?
Tim blieb stehen und drehte sich einmal im Kreis. Nichts
hier kam ihm bekannt vor, aber sah nicht sowieso ein Baum aus wie der andere?! Er erinnerte sich noch gut an den sandigen Hang, den sie beim letzten Mal erklommen hatten. Wenn er den erst mal gefunden hatte, würde er auch den Bunker wieder finden.
Also weiter!
Er folgte einem Pfad durchs Unterholz, der früher ein Weg gewesen sein mochte, jetzt aber wohl nur noch vom Wild benutzt wurde. Es gab keine Spuren, demnach war in den letzten Stunden hier niemand entlanggekommen. Wahrscheinlich benutzte der Täter einen anderen Weg. Wenn er nicht völlig verkehrt lag!
Tim geriet ins Grübeln. War das nicht Schwachsinn, was er hier tat? Er hätte sich zumindest von Nele die Erlaubnis holen müssen und nicht eigenmächtig und allein losziehen dürfen. Wenn die Sache schlecht ausging und er hier kostbare Zeit vertrödelte, würde es für ihn nicht ohne Konsequenzen bleiben. Tim wusste das, und trotzdem konnte er nicht anders handeln. Zwar schwanden seine Selbstsicherheit und sein Mut mit jedem Meter, der ihn weiter in den tiefen Wald führte, ans Umkehren dachte er aber nicht. Er würde Anouschka hier finden, er würde sie retten und als Held dastehen. Und vielleicht würde sie sich danach für ihn interessieren. Viele Beziehungen entstanden aus Extremsituationen.
Du bist ein Idiot!, sagte eine Stimme in seinem Hinterkopf.
Er achtete nicht darauf und ging weiter.
Nach zehn Minuten fand er den Sandhügel, stieg hinauf und sah sich um.
Ja, hier hatten sie gestanden!
Zwischen diesem und dem nächsten Hügel verlief ein tiefer
Graben, an dessen Grund sich Betontrümmer stapelten. Sie stammten von ausgegrabenen und gesprengten Tunneln. Eisenbewehrung ragte aus dicken Brocken, die kreuz und quer übereinanderlagen und Hohlräume bildeten, in denen Menschen sich verstecken konnten. Dass das seit Jahren keiner mehr getan hatte, dafür sprachen die flauschigen Flechten aus Moos und Pilzen, die überall wucherten und unversehrt waren.
Tim suchte den Weg um den Graben herum. Da unten durchzugehen war zu gefährlich. Er fand ihn und kämpfte sich durch Dornengestrüpp und niedrig hängende Äste zur anderen Seite. Als er wenig später auf der Kuppe des gegenüberliegenden Hügels stand, fiel ihm etwas auf. Er hatte einen anderen Weg genommen als der alte Schröder und war dadurch an die höchste Stelle des Hügels gelangt. Von dort aus erkannte Tim zwei Wege durchs Unterholz. Der erste, etwas breiter, führte in westliche Richtung, der andere, schmal und kaum zu erkennen, nach Südwesten. Er schlängelte sich von der Kuppe in den nächsten Graben und war nur deshalb so gut zu erkennen, weil er vor nicht allzu langer Zeit begangen worden war.
Eine Schleifspur zeichnete sich deutlich ab.
Tims Herz schlug ein paar Takte schneller.
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