Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
uniformierten Beamten beendete. Er wirkte verzweifelt.
»Überall das Gleiche. Ein unauffälliger, freundlicher Mann, etwas zurückhaltend, keiner weiß mehr über ihn.«
Nele setzte den stellvertretenden Polizeichef über die Neuigkeiten ins Bild und bat ihn, sie zum Gefängnis zu begleiten. Seine Autorität würde vielleicht reichen, die Formalitäten zu beschleunigen.
Sie nahmen seinen Wagen, einen dunklen BMW.
»Was versprechen Sie sich von dem Besuch dort?«, fragte Hendrik während der Fahrt.
»Informationen darüber, wo Karel Murow sich versteckt halten könnte. Vielleicht gibt es ein Haus, von dem wir nichts wissen. Oder irgendeinen Platz aus seiner Kindheit.«
Hendrik sah sie kurz von der Seite an.
»Wir werden sie finden. Lebend!«, sagte er mit fester Stimme.
Nele mied den Blickkontakt. »Ja«, sagte sie leise.
Als der Verkehr in der Stadt zu dicht wurde, pflanzte Hendrik sein Einsatzlicht aufs Dach, schaltete die Sirene ein und gab Gas. Er fuhr waghalsig, aber sicher, gefährdete niemanden und kam zügig voran. Nach vierzig Minuten erreichten sie die Justizvollzugsanstalt. Hendrik machte sich nicht die Mühe, einen Parkplatz zu suchen. Er ließ seinen Wagen einfach vor dem Besuchertor stehen, trotz des Halteverbotes.
Er griente, als er den Schlüssel abzog.
»Wollte ich schon immer mal machen.«
Der Pförtner wies ihn darauf hin, dass er seinen Wagen dort nicht stehen lassen könne, doch Hendrik zeigte ihm seinen Ausweis, nannte seinen Dienstgrad und verlangte, umgehend zum Leiter der Anstalt gebracht zu werden.
Drei Minuten später kam ihnen auf dem langen, weiß getünchten Gang zwischen Warteraum und erster Schleuse ein leicht hinkender, übergewichtiger Mittfünfziger entgegen, der einen gut sitzenden Anzug trug. Allerdings hing die rote Krawatte auf halb acht.
»Kriminalrat Hendrik!«, rief er schon von weitem und streckte die Hand aus. »Wo brennt es denn?«
Hendrik stellte Nele vor und informierte Bernd Holzkamp in knappen, präzisen Sätzen.
Der stellte keine langwierigen Fragen, nickte nur und ging voraus. Während sie verschiedene Schleusen und Stahlgittertüren passierten, erzählte er.
»Sie wissen, weshalb Frau Murow einsitzt?«
»Wegen Mordes an ihrem Ehemann«, antwortete Nele.
»Richtig, aber Details kennen Sie nicht, oder täusche ich mich da.«
»Dafür reichte die Zeit nicht.«
»Natürlich.« Er räusperte sich. Sie erreichten eine abgeschlossene Tür. Zwei dunkle Videoaugen beobachteten sie. Auf ein Klingeln des Anstaltsleiters hin wurde geöffnet. Holzkamp sah Nele an. Er hatte freundliche, braune Knopfaugen.
»Ich war damals noch nicht hier, kenne die Akte aber gut genug. Sie hat ihrem Mann, der sie und den Sohn über Jahre gequält und geschlagen haben soll, im betrunkenen Zustand überwältigt, ihn an den Sessel gefesselt und die … na ja, die Genitalien abgeschnitten.«
Bei den letzten Worten wandte Holzkamp den Blick ab.
»Hört sich nach einer erfrischenden Beziehung an«, sagte Hendrik mit zynischem Unterton.
»War der Junge damals dabei?«, wollte Nele wissen.
»Wie bitte?«
»Ob der Junge damals bei der Tat zugeschaut hat?«
Holzkamp verzog das Gesicht. »Ja, hat er.«
»Was ist danach mit ihm geschehen?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis. Da müssten Sie beim Jugendamt nachfragen. So, da sind wir.«
Ohne irgendein Formular ausgefüllt zu haben, durchsucht oder abgetastet worden zu sein, ließ man sie in den Besucherraum, der völlig leer war. Acht Tische standen in dem großen hellen Raum verteilt, jeweils vier Stühle an jedem Tisch. Auf den Fensterbänken wucherten einige Grünpflanzen. Sie gaben sich redlich Mühe, vermochten diesen kargen, sachlichen Raum aber nicht aufzuheitern.
»Noch etwas«, sagte Holzkamp, bevor er sich umwandte. »Frau Murow wird demnächst entlassen. Die Entscheidung ist in der letzten Konferenz gefallen. Sie hat fast zwölf Jahre rum.«
Nele sah den Leiter der Anstalt an.
»Sie wird entlassen, und ausgerechnet jetzt fängt ihr Sohn damit an, Frauen zu entführen«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Holzkamp. »Weiß der Sohn von der Entlassung?«
Holzkamp zuckte mit den Schultern. »Ich denke nicht. Auf Wunsch informieren wir zwar die Angehörigen, ich weiß allerdings nicht, ob Frau Murow darum gebeten hat. Sie könnte ihm aber auch selbst geschrieben haben.«
»Wird die Post nicht kontrolliert?«
»Ausgehende Briefe nur in besonderen Fällen. Bei Frau Murow besteht dazu allerdings kein
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