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Tief

Tief

Titel: Tief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Croft
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niedergelassener Urologe mit einer Privatpraxis in der Harley Street, Ian als Geschäftsmann und Aufsichtsratsvorsitzender zahlreicher Unternehmen –, waren sie gemeinsam gesegelt, wann immer es ihre Zeit zuließ. Schließlich hatten sie sich beide vorzeitig zur Ruhe gesetzt und verbrachten jedes Jahr zwei oder drei Monate auf ihrem Schiff. Im Moment hielten sie Kurs auf Galway an der Westküste Irlands.
    »Schön ruhig«, sagte Rupert.
    »Sie haben erstklassiges Wetter vorhergesagt«, antwortete Ian.
    »Wunderbar.«
    Sie hatten ein System: Wenn sie in schlechtes Wetter gerieten oder die Vorhersagen nicht so gut waren, blieben sie beide nüchtern; waren die Bedingungen mäßig, blieb einer von ihnen nüchtern; aber wenn sowohl das Wetter als auch die Vorhersage gut waren, betranken sie sich beide.
    »Hier ist das erste Glas.«
    »Schmeckt immer am besten.«
    Sie kippten einen großen Gin hinunter. Am Horizont Richtung Spanien tauchte als verschwommener schwarzer Punkt ein großer Frachter auf. Eine einzelne Wolke hing darüber. Die Alyson schaukelte sanft auf den Wellen.
    »In Galway war ich noch nie.«
    »Ich einmal, auf einer Hochzeit. Der Bräutigam hat sich übergeben.«
    »Sich übergeben?«
    »Aus Nervosität.«
    Zwanzig Minuten später tranken sie einen zweiten Gin und weitere zwanzig Minuten später einen dritten. Die Sonne stand noch hoch am Himmel. Der Frachter in der Ferne war kaum zu erkennen – man konnte nicht sagen, ob er wirklich da war oder ob es nur so aussah. Ian las ein Golfmagazin. Rupert stand hinter dem Steuer. Eine halbe Flasche Gin hatten sie bereits geleert.
    »Willst du mich mal ablösen?«
    »Klar. Ups …« Ian schwankte ein wenig, als er aufstand.
    »Bisschen beschwipst?«
    »Völlig blau.«
    » VERDAMMTE SCHEISSE !«
    »Hey, beruhige dich.«
    » IAN !«
    Rupert zeigte aufs Meer an Backbord. In etwa fünfzig Meter Entfernung schwamm eine ganze Herde von Walen am Boot vorbei. Aber es war nicht nur ihre Zahl, die den Anblick so verblüffend machte, sondern auch ihr Tempo und die Tatsache, dass sie so dicht zusammen an der Oberfläche schwammen. Sie wirbelten das Meer gehörig auf, und ihr Kielwasser brachte das kleine Schiff zum Tanzen. Es neigte sich in einem gefährlichen Winkel. Ian plumpste auf sein Hinterteil zurück, während Rupert sich geistesgegenwärtig an der Handreling festhielt. Innerhalb einer Minute waren die Wale Hunderte von Metern entfernt, und nach fünf Minuten brauchte Rupert ein Fernglas, um sie noch erkennen zu können.
    »Ich habe die Ginflasche umgeschmissen«, sagte Ian.
    Sie sendeten einen Lagebericht. Die Küstenfunkstation in Falmouth nahm ihn auf.
    »Küstenwache, hier ist die Alyson, over.«
    »Normaler Verkehr, mittlere Frequenz zwei-eins-acht-zwei, fahren Sie fort, Alyson, over.«
    »Lagebericht. Position ist sechsundvierzig Grad achtundzwanzig Punkt Nord, vierzehn Grad sieben Punkt West, Bedingungen ruhig, keine Probleme, fahren Nord-Nordwest nach Galway, Irland, over.«
    »Verstanden, over.«
    »Kleinerer Zwischenfall, fünfzehnhundert Uhr, Hunderte von Walen, die in rasendem Tempo am Boot vorbeigeschwommen sind, over.«
    Eine Pause trat ein.
    »Durchsage nicht verstanden, bitte wiederholen, over.«
    »Hunderte von Walen, die schnell und in Formation am Boot vorbeigeschwommen sind, over.«
    »Küstenwache wünscht in Kenntnis gesetzt zu werden, ob die Besatzung der Alyson unter Alkoholeinfluss steht.«
    Ian wandte sich an Rupert.
    »Er hält uns für betrunken.«
    »Wir sind betrunken.«
    »Na ja, aber … Küstenwache, hier ist die Alyson. Wir geben zu, dass wir nicht hundertprozentig nüchtern sind, erklären jedoch, dass wir nicht halluzinieren, over.«
    »Küstenwache verlangt von der Alyson, den Lagebericht zu beenden und den Kanal für den anderen Verkehr freizugeben, over.«
    »Die Blödmänner«, sagte Ian empört.
    *  *  *
    Unter dem Bug der Vegas hatten sie sich zu einem riesigen Keil zusammengeschlossen. Ihre mächtigen Körper waren dicht aneinandergedrängt, und sie versuchten – so unvorstellbar es auch war – das Schiff aufzuhalten. Ihre Schwanzflossen peitschten das Meer, bis es schäumte. Der Lärm ihres frenetischen Kampfes schmerzte in den Ohren. Kapitän Isaksson, trotz der eisigen Kälte betrunken, zitterte in seinem pelzgefütterten Ledermantel und beobachtete das Schauspiel in fatalistischer Stimmung. Am liebsten wäre er über die Reling geklettert und hätte sich in bester finnischer Tradition in die Fluten gestürzt.

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