Tief
Ich bin ein schlechter Mensch, dachte er, und dies ist mein Schicksal. Es ist eine Szene aus der Hölle. Zwischendurch schossen ihm immer wieder logische Gedanken durch den Kopf: Das Schiff wog 92128 Tonnen mit einem unbeladenen Verdrängungsgewicht von 125260 Tonnen; es war zweihundertelf Meter lang und an der breitesten Stelle dreißig Meter breit; es hatte 22000 PS , und hunderttausend Wale hätten es nicht aufhalten können. Er packte die Reling fester und blickte zu vier Bangladeschis, die voller Panik herumliefen. Er war der Kapitän dieses Schiffes. Außerdem war er ein aufgeklärter Mann. Er musste unbedingt die Kontrolle behalten und irgendetwas tun, um seine Mannschaft zu beruhigen.
»Rufen Sie auf der Brücke an. Sie sollen uns die genaue Position durchgeben«, befahl er dem Zweiten Offizier, einem Türken.
»Das Telefon funktioniert nicht, Sir.«
»Hä?«
»Es funktioniert nicht.«
Die Entschlossenheit des Kapitäns geriet ins Wanken. Er seufzte. Jetzt hatte er genug. Er würde nicht eine Minute länger auf dieser Todesfalle von einem Schiff bleiben. Ihm war egal, auf welcher Position sie sich befanden oder wie weit sie noch von der Abladestelle entfernt waren. Die Ladung würde jetzt über Bord gehen, und das Schiff würde aus diesen verbotenen Gewässern verschwinden.
Der Container wurde im Trockengut aufbewahrt. In Übereinstimmung mit dem Gesamtzustand der Vegas war auch dieser Laderaum kaum besser als ein Mülleimer. Stinkende, verrottende Taue lagen herum, und darüber hatte jemand eine alte Matratze geworfen.
Während die Wale sich immer noch gegen den Bug des Schiffs drängten, gingen zwei Bangladescher – die mit je sechshundert Dollar aus der Tasche des Kapitäns bestochen worden waren – zögernd in den Laderaum, um den Behälter zu holen. Es war ein kleiner, schwerer Kasten aus dunkelgrauem Metall, so schwer wie ein Mann. Die beiden Matrosen brauchten eine Viertelstunde, um den Kasten aus dem Laderaum herauszuholen. Sie wussten nicht, was er enthielt, aber man brauchte kein Genie zu sein, um sich zu denken, dass es etwas Fürchterliches sein musste. Ein paar Minuten später wurde er ins Meer geworfen und verschwand in der Tiefe.
Kurz darauf gaben die Wale ihren vergeblichen Versuch auf. Sechzehn Minuten später war der Metallbehälter zweitausendvierhundert Meter tief auf den Boden des Irminger-Beckens gesunken. Der Stoff, den er enthielt, war so giftig, dass man damit die gesamte Bevölkerung von New York hätte auslöschen können.
5
»Sie mussten das Institut auf den Kopf stellen, um sie zu finden«, sagte Whitaker und reichte Roddy die Akte, nach der dieser verlangt hatte.
Roddy gönnte sich vor einem Fernseh-Interview, dem er widerwillig zugestimmt hatte, eine kurze Pause. Er saß auf einem Liegestuhl, ein Sandwich in der Hand und einen Pappbecher mit Kaffee zu seinen Füßen. Eifrig schlug er die Mappe auf und blätterte sie durch.
»Neufundland«, sagte er. »Ich war im dritten Jahr meines Doktorandenstudiums. Ein Typ namens Professor Robinson – er ist mittlerweile tot – hat damals die Auswirkungen von unterschiedlichen Fischereimethoden auf Buckelwale untersucht, und er brauchte eine Hilfskraft. Mein Doktorvater hat mich für zwei Monate nach Kanada fahren lassen.«
Er reichte Whitaker ein Foto: Es zeigte zwei grinsende Männer in sehr knappen Shorts, die einander die Arme um die Schultern gelegt hatten und vor der untergehenden Sonne auf einer Klippe standen. Einer war ein gemütlich aussehender Mann in mittlerem Alter, mit einem runden, strahlenden Weihnachtsmanngesicht, komplett mit roten Bäckchen und weißem Bart. Der andere war ein dünner Roddy mit frischem Gesicht und einer tragischen Frisur.
»Das war Anfang der Achtzigerjahre«, sagte Roddy defensiv.
»Komm schon, Roddy, ein paar Jahrzehnte reichen nicht aus, um so eine Matte zu entschuldigen.«
Roddy gab ihm ein anderes Foto. Es zeigte eine Gruppe von Walen, die in flachem Wasser gestrandet waren.
»Pottwale in der White Bay an den Long Range Mountains«, erklärte er. »Jungtiere. Sie schwimmen heran, auf der Suche nach leichter Beute und – meiner Meinung nach – Abenteuer. Junggesellenherden von Pottwalen können unglaublich neugierig und tollkühn sein. Am gefährdetsten sind die, die zum ersten Mal mitmachen; sie werden oft von der Geschwindigkeit überrascht, mit der die Ebbe eintritt. Die hier hatten Glück; mit der nächsten Flut hatten wir sie wieder im Meer. Es war ziemliche Routine, wir
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