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Tief

Tief

Titel: Tief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Croft
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sollen mir eine Akte heraussuchen. Sie ist sehr alt, ich habe damals noch studiert, und es geht um eine Junggesellenherde gestrandeter Pottwale in Kanada. Okay?«
    »Okay.«
    »Ich weiß nicht, wo sie ist, und ich weiß auch nicht, worunter sie abgelegt ist, aber ich brauche sie auf der Stelle hier, also setz alle Hebel in Bewegung. Klar?«
    »Klar.«
    Roddy drehte sich um und ging zurück zu dem Wal. Als er auf ihn kletterte, ging ein Raunen durch die Menge. Hunderte von Kameras und Handys blitzten auf. Er kletterte zur Schwanzwurzel und arbeitete sich dann vorsichtig zum Rücken hinauf, bis er direkt hinter der Rückenflosse saß. Das schwarze Mal hatte ungefähr die Größe eines Esstellers. Er betrachtete es eingehend, schüttelte dann aber den Kopf. Verdammt. Ich bin nicht sicher …
    Er versuchte nicht darüber nachzudenken, als er wieder am Boden war. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Blutentnahme und das Biopsie-Material. Anschließend fotografierte er den Pottwal aus jedem erdenklichen Winkel. Gemeinsam mit Whitaker vermaß er ihn und notierte alles, dann machte sich Roddy an den Schnitt.
    Eine halbe Stunde nachdem der Wal das Narkosemittel verpasst bekommen hatte, schaute das Publikum verwirrt zu, wie Roddy sich mit einer großen Säge neben dem Schwanz des Tiers aufbaute. Er hob das Ende einer Schwanzflosse hoch und legte es so über Kamalas Ärztekoffer, dass ein Teil über die Kante hing. Ohne große Umstände begann er, ein etwa acht Zentimeter langes Stück aus der Flosse herauszusägen. Das Blut, das herausschoss, wischte er mit einem sterilen Schwamm ab. Das Publikum buhte ihn aus, und als ein Mann »Schämen Sie sich!« schrie, blickte er auf.
    Er verzog das Gesicht. Warum maßen sich die Leute ein Urteil über Dinge an, von denen sie nichts verstehen?, dachte er. Es ist eine Standardprozedur, eine Ecke in die Schwanzflosse eines gestrandeten Wals zu sägen und sie dann zu fotografieren: schmerzlos, harmlos und immens nützlich …
    Blackfin blies, und der Fischgeruch des Wasserdampfs wurde vom leichten Wind verteilt. Dieser Mann, der auf ihm herumkletterte und so sanfte, freundliche Laute von sich gab, beruhigte ihn. Er ahnte, dass ihm diese vielen, vielen Menschen Gutes wollten, und doch fühlte er sich schrecklich hilflos. Wie sollte er den Menschen mitteilen, was in der Wasserwelt passierte? Wie konnte er ihnen sagen, dass sein Stranden ein absichtlicher Verzweiflungsakt gewesen war, ein Versuch, über die Katastrophe zu berichten?

4
    Die Verteidigungsministerin, Victoria Adlington, fuhr vom Flughafen Heathrow direkt ins Ministerium, nachdem sie an einer Konferenz der europäischen Verteidigungsminister in Straßburg teilgenommen hatte. Bevor sie den Vorsitz über einen Unterausschuss des Kabinetts übernahm, traf sie sich mit ihrem Staatssekretär.
    Ihr Fahrer hielt ihr die Tür auf. Staunend registrierte er, wie lange sie brauchte, um ihren Ministerinnenhintern aus dem Ministerinnenauto herauszubewegen. Ja, sie ist wirklich eine fette, alte Kuh, dachte er, als die Adlington ihre Füße auf den Bürgersteig stellte, sich mit der rechten Hand am Türgriff festhielt und mit ihrem riesigen Hinterteil an den Rand der Sitzbank rutschte.
    Misstrauisch starrte sie auf das Pflaster, als ob sie sich auf einen Bungee-Sprung vorbereitete, dann hievte sie sich aus dem Wagen. Sie war nicht nur dick, sie war auch groß, fast eins achtzig. Der Fahrer kam sich neben ihr wie ein Zwerg vor. Ihr monumentaler, aber formloser Busen, den sie durch noch so viele Kleidungsstücke nicht verbergen konnte, ängstigte ihn. Du hässliche alte Schreckschraube, dachte er.
    »Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.«
    »Danke, Jim. Ihnen auch.«
    Als erste Frau, die den Macho-Posten des Verteidigungsministers innehatte, stand Adlington an der Spitze einer Hierarchie, die Hunderttausende von Männern umfasste, die Frauen normalerweise diskriminierten. Ihr Körperumfang war Zielscheibe zahlreicher Witze im Verteidigungsministerium, in Whitehall, Westminster und bei den Streitkräften, und sie hatte so viele Spitznamen, dass man damit ein Nachschlagewerk hätte füllen können, aber am häufigsten wurde sie – mit einem gewissen Maß an Zuneigung – Hattie genannt, nach der beliebten Schauspielerin Hattie Jacques, die ihr in Größe und Umfang in nichts nachstand.
    Langsam ging die Ministerin auf die Doppeltüren zu, die der Portier schon aufriss, bevor sie auch nur in ihre Nähe kam. Mit dem Tempo einer von Pferden

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