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Tief

Tief

Titel: Tief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Croft
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nicht tun, aber darum geht es nicht. Es ist eine schwierige Aufgabe, die von einem Fachmann erledigt werden muss, und ich bin nicht der erste, der so etwas macht.«
    »Ich weiß.«
    Roddy dachte an seine Erfahrungen in dieser Hinsicht. Da war dieser tote Brydewal vor zwei Jahren in Sri Lanka gewesen – es hatte sich herausgestellt, dass sein Innenohr total von Würmern zerfressen gewesen war, er hatte bestimmt schreckliche Schmerzen gehabt – und dann der Finnwal, der im Grunde an Altersschwäche gestorben war. Das war jetzt mindestens schon zehn Jahre her. Und beide Erfahrungen waren schrecklich gewesen.
    Die Szenerie wurde in gleißendes Licht getaucht, und Roddy blinzelte. Er betrachtete den gestrandeten Zwergwal, der vor ihm lag. Was für ein schönes Geschöpf. Der weiße Bauch, der an den Flanken in ein dunkles Grau überging. Die schwarzen, schlanken Schwimmflossen …
    Derek hatte früher am Tag bemerkt, dass fünf der neunundzwanzig gestrandeten Zwergwale keine weißen Streifen auf den Flossen hatten. Weiße Streifen signalisierten, dass ein Zwergwal aus dem Nordatlantik stammte; wenn sie fehlten, stammte er aus der südlichen Hemisphäre. Es war kaum vorstellbar, dass Wale aus entgegengesetzten Enden des Planeten hier zusammengekommen waren. Das setzte voraus, dass sie über riesige Entfernungen miteinander kommuniziert hatten. Vor diesem Hintergrund hatte Roddy beschlossen, nicht sechs, sondern sieben Nekropsien vorzunehmen, weil er so zwei Exemplare derselben Spezies aus unterschiedlichen Lebensräumen untersuchen konnte. Mittlerweile bedauerte er es, dass er Kamala Mohandhas nicht diplomatischer von der Notwendigkeit der Prozedur überzeugt hatte. »Das ist eine fantastische Gelegenheit«, hatte er gesagt, und Kamala hatte eisig darauf geantwortet: »Für Sie mag es eine fantastische Gelegenheit sein. In meinen Augen ist es obszön.« Du bist ein blöder Idiot, beschimpfte Roddy sich im Stillen. Er klopfte dem Tier, das er töten würde, die Flanke. »Ich will es nicht, ich will es nicht.«
    Sechs Männer in weißen Gummi-Overalls und ebensolchen Stiefeln traten in den abgeschirmten Bereich. Roddy nickte ihnen zu. Die Metzger; was für ein Job. Diesen Wal zu zerlegen, war eine ungeheuer blutige Angelegenheit. Allerdings würden die Männer deswegen keine schlaflosen Nächte haben. Und welche Ironie, dass wir norwegische Walfänger einfliegen lassen mussten.
    Kamala Mohandhas kam mit Derek herein. Im gleißenden Scheinwerferlicht wirkte ihr Gesicht hart. Sie warf den Norwegern einen Blick zu, als seien sie verurteilte Mörder. Roddy rang sich ein düsteres Lächeln ab.
    »Werden Sie es wirklich tun?«
    »Ja.«
    Sie schüttelte den Kopf. Einer der Norweger wickelte eine lange Lanze aus einem Stück Ölzeug. »Jesus«, flüsterte Kamala, als er Roddy das Instrument reichte. Als sich seine Finger um den Schaft schlossen, kam ihm erst richtig zu Bewusstsein, was für eine hässliche Aufgabe ihm bevorstand. Das Metall fühlte sich so kalt an.
    Kamala verließ den abgeschirmten Bereich, und auf der Promenade begannen die Leute zu skandieren: »Lasst die Wale in Ruhe! Lasst die Wale in Ruhe!« Roddy wartete darauf, dass das Geschrei nachließ, aber die Stimmen wurden immer lauter. Gestern Abend hätte er noch wütend reagiert, weil der Lärm die Wale nervös machte. Aber jetzt empfand er vor allem … Ja, was? Angst, stellte er unbehaglich fest. Hilfe suchend ging sein Blick zu Derek.
    »Ich tue doch das einzig Richtige, oder?«
    »Roddy …«, stammelte Derek, »ich weiß nicht. Ich weiß nicht mehr, was richtig ist. Du musst die Entscheidung treffen.«
    Na toll, dachte Roddy. Er schaute auf seine Armbanduhr. 22.00 Uhr. Wenn ich es schaffen will, sollte ich langsam mal loslegen. Er kniete sich etwa einen Meter vor das massive, hilflose Tier. Okay. Gott sei Dank saßen die Augen an den Seiten. Wenn der Wal ihn angeschaut hätte, hätte er es nicht tun können. Sorgfältig wählte er die Stelle, wo er die Lanze ansetzen musste. Wenn er es richtig machte, spürte das Tier kaum Schmerz, und der Tod trat sofort ein.
    Er hielt inne. Unablässig skandierte die Menge, und Roddy konnte sich nicht auf seine Aufgabe konzentrieren. Alle hassen mich, dachte er, aber ich muss es jetzt tun. Ich bringe es besser hinter mich. Und bevor ein Zweifel seine Entschlusskraft trüben konnte, stieß er die Lanze zart und fest zugleich mitten in die Halsschlagader. Für den Bruchteil einer Sekunde passierte gar nichts, doch dann

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