Tiefe Sehnsucht - stärker als alle Vernunft
da sie unbedingt Abstand von den Brüdern brauchte, wollte sie erst mal die beiden begrüßen. Denn die Spekulationen über Shanes Absichten konnte sie nur schwer ertragen. Ihre Nerven waren sowieso schon zum Zerreißen gespannt. Wenn sie ihre Verlobung bekannt gaben und gleich anschließend die Schwangerschaft, gab es kein Zurück mehr. Dann waren sie der Reaktion der Familie ausgeliefert. Hoffentlich ging man freundlich mit ihnen um.
„Wie schade, dass du gestern nicht mit Avery und mir zum Lunch gehen konntest“, meinte Erica, während sie die Schwester umarmte. „Geht es dir nicht gut?“
„Doch, doch.“ Melissa hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Erica während der ganzen letzten Woche aus dem Weg gegangen war. „Alles in Ordnung. Ich habe nur allerlei um die Ohren mit einem neuen … Projekt.“ Immer noch bedauerte Melissa es sehr, dass der Vater ihnen die Halbschwester so lange vorenthalten hatte. Denn sie mochte Erica. Aber aus irgendeinem Grund hatte der Vater bestimmt gehabt, dass seine Kinder erst bei der Testamentseröffnung, die zwei Monate zuvor stattgefunden hatte, von ihrer Existenz erfahren sollten.
„Kommt, lasst uns hineingehen und sehen, was McDermott vorhat.“ Guys Zwillingsbruder Blake war mit seiner Sekretärin Samantha Thompson auf die drei zugekommen. Nicht zum ersten Mal fragte sich Melissa, wann ihr sturer Bruder endlich bemerken würde, was für eine hübsche Frau Samantha war. Manche Menschen sollte man wirklich zu ihrem Glück zwingen. Und sie, wurde sie nicht auch zur Ehe gezwungen? Aber ob das auch ihr Glück war, würde sich wohl noch herausstellen müssen.
Als die fünf die Sky Lounge betraten, erblickte Melissa Shane an der Tür zu einem der Gesellschaftsräume, wo er lächelnd seine Gäste mit Handschlag begrüßte. Auch in Anzug und Krawatte sah er sensationell gut aus, und Melissa musste sich zusammennehmen, um ihn nicht anzustarren. Nur wenige Männer sahen in Jeans und Arbeitshemd genauso gut aus wie im Anzug. In beidem bewegte Shane sich mit größter Selbstverständlichkeit.
„Wo ist denn Gavin?“, fragte er, während er die fünf begrüßte.
„Er kommt sicher gleich“, vermutete Blake. „Als wir zum Fahrstuhl gingen, habe ich ihn noch in der Hotelhalle gesehen. Offenbar hat er da einen alten Freund getroffen.“
Während Shane auf den großen ovalen Tisch zuging, wies er auf die Stühle. „Bitte, setzt euch. Wir fangen an, sobald Gavin da ist.“ Als Melissa bei ihm vorbeikam, hielt er sie am Arm fest. „Ich möchte gern, dass du auf einem der beiden Stühle Platz nimmst, die gegen den Tisch gekippt sind“, sagte er leise.
„Gut.“ Während sie einen der beiden Stühle gerade hinstellte und sich setzte, bemerkte sie, dass Erica sie befremdet ansah und dann auf den freien Stuhl neben sich wies. Doch Melissa schüttelte nur den Kopf. Es tat ihr leid, die Schwester enttäuschen zu müssen. Aber Erica würde sie sicher verstehen, wenn sie den Grund für diese Veranstaltung erfuhr.
„Tut mir leid, dass ich zu spät komme!“ Gavin stürzte in den Raum und setzte sich schnell auf einen freien Platz. „Ich habe zufällig einen früheren Schulkameraden getroffen. Den musste ich schnell noch begrüßen.“
„Gut, dann sind wir ja jetzt vollzählig.“ Shane griff nach dem Stuhl neben Melissa und stellte ihn gerade hin. Doch er blieb stehen. „Wahrscheinlich fragt ihr euch alle, warum ich euch heute Abend hergebeten habe“, sagte er und blickte seine Gäste der Reihe nach an.
„Also, wo du das so sagst, eigentlich schon …“, sagte Trevor, hielt aber sehr schnell inne, als Blake ihm einen Rippenstoß versetzte.
„Das glaube ich gern, Trevor.“ Shane warf ihm ein Lächeln zu. „Ich wäre auch neugierig.“
Während Melissa nervös die Hände im Schoß verschränkte, bemühte sie sich, nach außen hin gelassen zu wirken. Einerseits war sie froh, dass die Heimlichtuerei endlich ein Ende hatte, andererseits fürchtete sie die Reaktion der Familie und wusste selbst nicht, ob sie das Richtige tat.
Als Shane nach ihrer Hand griff, zuckte sie kurz zusammen, ließ sich dann aber doch von ihm hochziehen. „Seit eure Schwester vor ein paar Monaten nach Aspen zurückgekehrt ist, haben wir uns häufiger getroffen, und unsere Beziehung …“
„Ich wusste es!“, rief Trevor aus und sah sich triumphierend in der Runde um. „Schon als ich euch Ende Juli zusammen gesehen habe, war mir klar, dass da irgendwas vor sich ging.“
„Nun tu nicht so,
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