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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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Glückwunsch zu und streckt die Arme nach ihm aus. Ihr Herz macht einen Satz, denn er kommt direkt auf sie zu, lächelnd, strahlend. Die Enttäuschung schmerzt wie ein Messerstich, als sie begreift, dass sein Lächeln nicht ihr gilt, sondern Vicky. Die Eifersucht würgt in ihrer Kehle. Er umarmt die andere, legt seinen Arm um ihre Schulter, verschwindet mit ihr in der Menschenmenge, die ihn und seine Mannschaft begeistert feiert. Vera spürt die Tränen in den Augen, die grenzenlose Leere in ihrem Innern. Diese Kränkung, die Zurückweisung vor allen anderen, ist mehr, als sie ertragen kann. Sie wendet sich ab, beschleunigt ihre Schritte. Enttäuschung wird zu Zorn, zu Hass. Sie ballt die Fäuste, läuft den sandigen Weg am Ufer des Sees entlang, nur weg, nur weg!
    Erschrocken zuckte Vera zusammen. Woher kamen so plötzlich diese Gedanken, die unerwünschten Erinnerungen? Mit Mühe verkniff sie sich einen Blick auf die Armbanduhr. Sie wollte nicht undankbar erscheinen, aber der ganze Trubel, die stickige Luft und die vielen Stimmen machten sie ganz benommen. Sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu richten, so, wie sie es seit sechzig Jahren gehalten hatte. In ihrem Leben hatte es immer nur ein Vorwärts gegeben, kein nostalgisch-verklärtes Zurückblicken auf Vergangenes. Auch aus diesem Grund hatte sie sich niemals vor den Karren irgendeines Vertriebenenbundes oder einer Landsmannschaft spannen lassen. Die Freifrau von Zeydlitz-Lauenburg war spätestens am Tage ihrer Hochzeit mit Eugen Kaltensee für immer verschwunden. Das ehemalige Ostpreußen hatte Vera nie wieder besucht. Wieso auch? Es stand für einen Lebensabschnitt, der für immer vorbei war.
    Siegbert klopfte mit einem Messer an sein Glas, das Stimmengewirr verstummte, die Kinder wurden auf ihre Plätze geschickt.
    »Was ist?«, fragte Vera ihren zweitältesten Sohn verwirrt.
    »Du wolltest vor dem Hauptgang doch eine kurze Ansprache halten, Mutter«, erinnerte er sie.
    »Ach ja.« Vera lächelte entschuldigend, »ich war ganz in Gedanken.«
    Sie räusperte sich und erhob sich von ihrem Stuhl. Es hatte sie einige Stunden gekostet, die kurze Rede vorzubereiten, aber nun verzichtete Vera auf ihre Notizen.
    »Ich freue mich, dass ihr heute alle hierhergekommen seid, um mit mir diesen Tag zu feiern«, sagte sie mit fester Stimme und blickte in die Runde. »Die meisten Menschen schauen an einem Tag wie heute zurück auf ihr Leben. Aber ich möchte euch die Erinnerungen einer alten Frau ersparen, ihr wisst ja sowieso schließlich alles, was es über mich zu wissen gibt.«
    Wie erwartet brandete kurzes Gelächter auf. Doch ehe Vera weitersprechen konnte, ging die Tür auf. Ein Mann trat ein und blieb diskret an der hinteren Wand stehen. Vera konnte ihn ohne Brille nicht richtig erkennen und spürte zu ihrer Verärgerung, wie ihr der Schweiß ausbrach und ihre Knie weich wurden. War das etwa Thomas? Besaß er wirklich die Frechheit, heute hier aufzutauchen?
    »Was hast du, Mutter?«, fragte Siegbert leise.
    Sie schüttelte heftig den Kopf, griff hastig nach ihrem Glas. »Schön, dass ihr alle heute mit mir feiert!«, sagte sie, während sie gleichzeitig krampfhaft überlegte, was sie tun sollte, wenn es sich bei dem Mann tatsächlich um Thomas handeln sollte. »Zum Wohl!«
    »Ein Hoch auf Mama!«, rief Jutta und erhob ihr Glas. »Alles Gute zum Geburtstag!«
    Alle hoben ihre Gläser und ließen die Jubilarin hochleben, gleichzeitig blieb der Mann neben Siegbert stehen und räusperte sich. Vera wandte mit klopfendem Herzen den Kopf. Es war der Inhaber von Schloss Bodenstein, nicht Thomas! Sie war erleichtert und enttäuscht zugleich und ärgerte sichüber ihre heftigen Gefühle. Die Flügeltüren des großen Saales öffneten sich, und die Kellner des Schlosshotels marschierten ein, um den Hauptgang zu servieren.
    »Entschuldigen Sie, dass ich störe«, hörte Vera den Mann leise sagen. »Ich soll Ihnen diese Nachricht übergeben.«
    »Danke.« Siegbert ergriff das Papier und faltete es aus einander. Vera beobachtete, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.
    »Was ist?«, fragte sie alarmiert. »Was hast du denn?« Siegbert blickte auf.
    »Eine Nachricht von Onkel Jossis Haushälterin.« Seine Stimme klang tonlos. »Es tut mir so leid, Mutter. Ausgerechnet heute. Onkel Jossi ist tot.«
     
    Kriminaldirektor Dr. Heinrich Nierhoff hielt sich nicht damit auf, Bodenstein in sein Büro zu beordern, um wie üblich seine Autorität und seine

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